Öffentliche Podiumsdiskussion
zum Thema
Die Lehren aus der Corona-Pandemie für künftige Verantwortungen bei der Krisenbewältigung
von Dr. Klaus Ritgen, Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.
alle Fotos: © Stein-Gesellschaft/Levermann
Prof. Dr. Christian Waldhoff im Gespräch mit Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof und Reinhard Sager (v.l.n.r.)
Deutschland ist im internationalen Vergleich als Bundesstaat mit starken Kreisen und Städten recht gut mit der Bekämpfung der Corona-Pandemie zurechtgekommen. Dennoch gilt es, aus den vielfältigen gesammelten Erfahrungen die richtigen Schlüsse zu ziehen: Welche konkrete Verantwortung ist künftig den Ebenen Bund, Ländern und Kommunen bei der Krisenbekämpfung zuzuweisen? Welche Aufgaben haben die Parlamente? Wie steht es um die Entscheidungsspielräume der Verwaltung? Welche Kontrollfunktion kommt der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit zu?
Diese und andere Fragen wurden am 24.8.2021 in einer gemeinsamen Veranstaltung des Kreises Coesfeld und der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V. behandelt. Auf dem Podium diskutierten Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof (Vizepräsident des BVerfG a. D.), Landrat Reinhard Sager (Kreis Ostholstein, Präsident des Deutschen Landkreistags) und Prof. Dr. Christian Waldhoff (Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht). Die Grußworte sprachen der Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Dietrich H. Hoppenstedt, sowie der Landrat des Kreises Coesfeld, Dr. Christian Schulze Pellengahr.
Grußworte und Diskussion werden im Folgenden dokumentiert.
Grußwort
Dietrich H. Hoppenstedt
Die heutige Veranstaltung soll die Frage behandeln, ob wir als Folgerungen aus der Pandemie klarere Aufgabenverteilungen zwischen den verschiedenen Ebenen unseres föderalen Staates, damit auch klarere Verantwortlichkeiten der unterschiedlichen Ebenen, benötigen. Natürlich wird damit auch zugleich, seit einiger Zeit ganz besonders, die Finanzierung von notwendigen Maßnahmen diskutiert.
Eigentlich ist es eine Selbstverständlichkeit, dass nach solch gravierenden Ereignissen wie der Corona-Pandemie - und wir können sicherlich das katastrophale Hochwasserereignis in NRW und Rheinland-Pfalz jedenfalls ganz grundsätzlich mit in die Diskussion einbeziehen – eine Evaluierung der Abläufe und des staatlichen Krisenmanagements stattfindet. Aber die in vielerlei Hinsicht neue Dimension der Ereignisse zwingt auch zu einer grundsätzlichen Herangehensweise an die Beantwortung der Frage, ob die bisherige föderale Gliederung der Bundesrepublik einschließlich der kommunalen Ebene diesen Herausforderungen in gleich guter Weise zur Krisenbewältigung gewachsen ist, wie wir das aus der Vergangenheit her gewohnt sind.
Das muss nicht gleich zu der Forderung nach einer Revolution führen. Sehr viele der gewachsenen Strukturen haben sich bisher als großer und effizienter Standortvorteil für unser Land erwiesen: Kompetente Verwaltungen der verschiedenen Ebenen und zugleich ehrenamtliches Engagement und Bürgersinn sind gerade durch die Selbstverwaltung und Verantwortlichkeiten vor Ort in Jahrhunderten gewachsen. Weder die in der nun schon seit einigen Monaten andauernde Corona-Krise gemachten Erfahrungen noch die ganz anders gelagerten aktuellen Katastrophenvorkommnisse in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz lassen m. E. den Schluss zu, dass wir eine grundsätzliche Neuordnung der Zuständigkeiten im Sinne einer Staatsstrukturreform brauchen, wie sie manche fordern.
Aber wir müssen auch den Mut haben zu fragen, ob wir heute vielerorts noch klare Verantwortlichkeiten haben. Und da kommt man - ganz grundsätzlich – um die Feststellung nicht herum, dass das alte und uns allen geläufige Wort vom „Goldenen Zügel“ doch vielleicht für manche Fehlentwicklung verantwortlich ist: Aufgabenzuordnungen ohne finanziellen Ausgleich werden vom Verständnis des Grundgesetzes nicht gedeckt; Forderungen der Länder an den Bund, Mittel für besondere Maßnahmen, und da hatten wir in den vergangenen Legislaturperioden reichliche von, bereitzustellen, wurden erfüllt, die Mittel aber dann nicht unbedingt ziel- und zweckgerecht weitergeleitet oder für den geforderten Zeck verwandt. Da waren dann natürlich Erwartungen des Bundes nach Mitsprache nicht mehr weit.
Diese Abkehr von den Grundsätzen der Finanzierung der einzelnen Ebenen – ggf. auch ihre systemkonform Weiterentwicklung – sind eine der wichtigen Ursachen für die organisierte Verantwortungslosigkeit, die wir nun angeblich haben. Und was mindestens genauso schlimm ist: der Bürger verliert in diesem System den Überblick über die Zuständigkeiten in unserem Staat und damit möglicherweise Vertrauen in ihn. Die Berichterstattungen der jüngsten Zeit legen hiervon Zeugnis ab.
Aber wie Sie dem Einladungsschreiben entnehmen können, geht es nicht nur um die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten der Administration: auch die Rolle der Parlamente wird hinterfragt, zumal viele der Abwehrmaßnahmen zugleich grundrechtsbeschränkend wirken.
Heikel, aber dennoch m.E. notwendig sind die Aufgaben und Rollen der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit zu hinterfragen: Bei vielen Maßnahmen der Gefahrenabwehr handelt es sich um Ermessensentscheidungen. Bei ihnen fließen auch subjektive Elemente der Beurteilung ein, es gibt nicht nur eine einzige richtige Entscheidung: Ist das Ausgehverbot um 21:00 Uhr richtig oder erst um 22:00 Uhr? Kann eine Demo verboten werden, weil möglicherweise oder offensichtlich die Corona-Auflagen nicht eingehalten oder durchgesetzt werden können? Unterschiedliche Entscheidungen der Verwaltungsgerichte haben hier nicht immer eine befriedende Wirkung gehabt. Es stellt sich aber an diesem Schnittpunkt auch ganz grundsätzlich die Frage: Bewegen wir uns hier noch im Bereich der Gewaltenteilung, haben wir einen Rechtsstaat oder einen Justizstaat? Ist es wirklich richtig, wenn die Administrative nicht mehr zuvorderst die Frage stellt, welche Maßnahme ist aus meiner Sicht notwendig und angemessen, sondern hat meine Entscheidung Bestand vor einem Verwaltungsgericht?
Und wo ich bei Gewaltenteilung bin: Die sog. „Vierte Gewalt“, die Medien – und damit meine ich insbesondere, wenn ich mich damit auf vermintes Terrain begebe, auch die öffentlich-rechtlichen Sender – sind ihrer verantwortungsbewussten Informationspflicht m.E. nicht immer und ausreichend nachgekommen. Die Berichterstattung zeichnete sich nicht gerade durch die vertiefte Kenntnis der Zuständigkeiten und des Menschenmöglichen aus. Es gibt immer wieder Naturkatastrophen, die nicht verhindert werden können, oder wie bei der Pandemie, in der sich jede, auch wissenschaftliche begründete Maßnahme im Rahmen eines lernenden Prozesses bewegt: Korrektur des Handelns ist nicht immer nur Korrektur von Fehlern und damit von Versagen, sondern häufig neuen Erkenntnissen geschuldet. Dass in solchen Fällen vielfach gleich von Staatsversagen die Rede ist, trägt nicht zur Vertrauensbildung bei. Es ist schlicht Journalismus um Quoten.
Grußwort
Dr. Christian Schulze Pellengahr
Der Kreis Coesfeld feiert in diesem Jahr als Träger die erste urkundliche Erwähnung der Burg Vischering vor nunmehr 750 Jahren. Gerne hätten wir das Ereignis in diesem Jahr mit groß angelegten Feierlichkeiten gemeinsam mit der Bürgerschaft würdig gefeiert. Allein die Pandemie mahnte uns zur Vorsicht, so dass wir uns auf eine Reihe kleinerer kultureller Veranstaltungen und Ausstellungen beschränkt haben. Wir sind dabei aber schon mitten im Thema. Die Pandemie, die viele Planungen eingeschränkt oder zunichte gemacht hat und vor allem für viele Menschen eine große Belastung war und ist. Dies ist unser Thema am heutigen Abend mit der Frage welche Lehren wir hieraus für künftige Verantwortungen bei der Krisenbewältigung ziehen.
Dr. Christian Schulze Pellengahr, Landrat Kreis Coesfeld
Nach nunmehr 16 Monaten pandemischer Dauerkrise stelle ich durchaus selbstbewusst fest, dass wir hier vor Ort als Kreis im engen Verbund mit unseren kreisangehörigen Städten und Gemeinden sowie den weiteren Akteuren und Hilfsorganisationen die Krise bis zum heutigen Tage gut gemeistert haben.
Dabei haben wir als Kommunalverwaltung in der Bekämpfung der Pandemie eine große Leistungsfähigkeit gezeigt und bewiesen, dass auch eine Mannschaftsleistung unter diesen schwierigen Voraussetzungen gelingen kann.
Natürlich: Auch uns und unser Gesundheitsamt stellte diese Pandemie vor neue Herausforderungen, Schwierigkeiten und viele Fragen. Wir haben jedoch stets den Einzelfall betrachtet und bewertet und passgenaue Entscheidungen für die Menschen hier vor Ort getroffen. Dabei haben die Kolleginnen und Kollegen an sieben Tagen in der Woche oft bis spät in die Nacht und bis an ihre Belastungsgrenze gearbeitet, um die Infektionsketten nachzuverfolgen und zu durchbrechen.
Natürlich haben wir uns in der Hochphase auch externer Unterstützung bedient: sei es durch den Einkauf eines ganzen Teams eines größeren Reisebüros oder aber auch durch die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, was gut und wichtig war. Aber das allermeiste haben wir doch selbst stemmen können.
Hierbei hat sich gezeigt, dass eine regionale Herangehensweise viel individueller auf die Bedürfnisse der Einzelnen eingehen kann und wir vor Ort die Strukturen einfach besser kennen als der Gesetzgeber in Düsseldorf, Berlin oder gar Brüssel. Es wurde deutlich, dass sich das uns vertraute Prinzip der Subsidiarität auch hier sehr bewährt hat. Denn wir wissen vor Ort wo der Schuh drückt und können auch schnell sagen, wenn Überlegungen beispielsweise beim Impfen in sozialen Brennpunkten geplant werden, ob wir solche überhaupt haben und wenn ja wo. Wir wissen wo wir gezielt mit dem Impfmobil hinfahren können und welchen Vereinsvertreter man noch ansprechen sollte, um die Menschen zum Impfen zu motivieren.
Der Kreis steht bei den Entscheidungen kontinuierlich im engen Austausch mit den Rathäusern in den Gemeinden, die ihrerseits naturgemäß noch näher am Bürger sind, so dass hier ein ständiger wechselseitiger Informationsaustausch wesentlicher Garant für die Bewältigung einer Krise ist. Auch können wir die Bürgerinnen und Bürger vor Ort deutlich gezielter motivieren sich an gewisse Regeln zu halten und diese umzusetzen.
Ich bin froh und dankbar, dass es im Kreis Coesfeld zu keinen Ausgangssperren kommen musste, da wir nie den Regelungen der Bundesnotbremse unterlagen. Durch regionale Lösungen können auch Verwerfungen zwischen Großstädten und dem ländlichen Raum vermieden werden. Denken wir nur an die Diskussion zur Regelung, sich nur 15 km um seinen Wohnort herum noch bewegen zu dürfen. Dies ist für einen Berliner etwas anderes als für jemanden in Rosendahl. Hier sind regionale Gegebenheiten zu beachten.
So hat aus meiner Sicht zu Recht die Rechtsprechung unseres Oberverwaltungsgerichts dem Normgeber ins Stammbuch geschrieben, dass regionale Regelungen bei dem Treffen von Maßnahmen entscheidend sind. Dies wurde sodann auch in Teilen umgesetzt. Inwieweit dabei die neueste CoronaSchVO in NRW vom 17. August 2021 mit der Abschaffung der bisherigen Inzidenzstufen und ihrer neuen Regelung, dass für Einschränkungen nun eine Landesinzidenz von 35 maßgeblich ist, erscheint mir hier allerdings durchaus fraglich.
Sie können sich vorstellen: in einer solchen Krise wurde und wird der Kreis auch als Krisenmanager von der Bevölkerung wahr- und in die Pflicht genommen.
Dabei seien mir abschließend auch zwei kritische Anmerkungen gestattet, die deutlich machen sollen, dass ich mir an der einen oder anderen Stelle durchaus einen partnerschaftlicheren Umgang der Regierungen mit den Kreisen und kreisfreien Städten wünschen würde.
Wir, die wir die von Bund und Land beschlossenen Maßnahmen umsetzen mussten, haben die entsprechenden Informationen hierzu teilweise erst deutlich nach großen Pressekonferenzen erhalten, in denen die Neuerungen verkündet wurden. Besonderer Beliebtheit erfreute sich als Mitteilungstermin solcher Neuerungen meist die Nacht von Freitag auf Samstag und ein Wirksamwerden direkt am nachfolgenden Tag. Allerdings waren die Pressevertreter, aber auch besorgte Bürgerinnen und Bürger, direkt am Telefon, um sich zu informieren, was denn genau diese neuen Regelungen bedeuten würden.
Wenn man dann noch nicht mal die neueste Verordnung übermittelt bekommen hat, ist dies, diplomatisch ausgedrückt, für unsere Arbeit ungünstig.
Auch führte so manche Ankündigung von Maßnahmen durch Bundespolitiker, wie die kurzfristige kostenfreie Einführung der Bürgertestungen im März dieses Jahrs, ohne dass hierfür die notwendige Zeit für den Aufbau entsprechender Testinfrastrukturen gedanklich berücksichtigt worden war, zu viel Ärger und Verdruss in der Bevölkerung.
Auch die Entscheidung, die Terminvergabe für die Impftermine in den von den Kreisen und kreisfreien Städten kurzfristig aufzubauenden Impfzentren in Nordrhein-Westfalen über zwei landesweite Hotlines zu organisieren, war nicht dazu geeignet, das Vertrauen der Bevölkerung in das Krisenmanagement zu stärken, da beide Hotlines mit ausdrücklicher Ansage völlig überlastet waren und vielfach zusammenbrachen.
So gut es ist, dass wir auch auf Landes- und Bundesebene starke und bewährte Partner haben, die Corona-Pandemie hat mich jedenfalls darin bestärkt, dass sich regionale Strukturen der Krisenbewältigung bewährt haben.
Eine noch engere Kommunikation mit den Ministerien aber mit einem zeitlichen Vorlauf der Informationen an die kommunale Familie vor bzw. mindestens gleichzeitig mit der Presse, wäre allerdings ebenso wünschenswert wie die Rücksichtnahme auf die Umsetzungsebene, die auch in der Krise die faire Chance benötigt, um Maßnahmen entsprechend umsetzen zu können.
Es gehört zu einer guten Krisenbewältigung auch die regelmäßige Selbsterforschung und Reflexion, für die man sich die notwendige Zeit nehmen muss. Dazu kann der heutige Abend einen wertvollen Beitrag leisten.
Schon Karl Freiherr vom Stein hat im Jahre 1802 dies mit Blick auf seine eigenen Reformüberlegungen selbstkritisch getan: Auch wenn man die Situation von damals nicht auf unsere heutige Lage übertragen kann, so wird in seinen Ausführungen doch seine Denkrichtung deutlich, so dass ich ihn abschließend zitiere: „Diese Pläne werden mit Rücksprache der Beamten, Stände entworfen, und so wird man später fertig, aber man vermeidet Missgriffe, die Unwillen; Störung im Gewerbe und so weiter nach sich ziehen. Man vermeide nur ja, alles generalisieren zu wollen und alles zu den Generalkassen zu ziehen, alle Lokal-Einrichtungen zu sprengen und zu vernachlässigen, auch Gesetze zu geben, ohne von ihrer Ausführbarkeit und der Zustimmung der öffentlichen Meinung überzeugt zu sein. Man blicke nur auf das linke Rheinufer und sehe die schrecklichen Folgen eines solchen Verfahrens…“
Als Optimist schließe ich meine Ausführungen mit einem Satz von Rita Süssmuth, der für die Situation, aus meiner Sicht, treffend ist: „Aus Krisen erwachsen auch immer neue Kräfte!“
In diesem Sinne freue ich mich auf einen interessanten und informativen Abend.
Podiumsdiskussion
Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Landrat Reinhard Sager, Prof. Dr. Christian Waldhoff
;
Waldhoff: Angesichts unseres heutigen Themas wollen wir vor allem auch in die Zukunft schauen, wobei dieser Blick in die Zukunft natürlich durch die in der Krise gemachten Erfahrungen motiviert und angeleitet sein wird. Im ersten Teil soll es um inhaltliche Fragen gehen, im zweiten Teil wollen wir uns dann damit beschäftigen, in welchem institutionellen Rahmen dieses Lernen aus der Krise stattfinden soll. Zu Beginn aber zwei Provokationen. Erstens: Der Bonner Ökonom Moritz Schularick verweist in seinem gerade erschienenen Essay „Der entzauberte Staat“ darauf, dass diese „Entzauberung“ nicht auf der Ebene des Grundgesetzes - dieses sei gleichsam sakrosankt -, sondern im „Maschinenraum des Staates“, bei der Bürokratie vor Ort stattgefunden habe. Zweitens: Föderalismus - und dazu zähle ich auch die kommunale Selbstverwaltung hinzu - ist die einzige Staatsstrukturentscheidung unseres Grundgesetzes, die besonderer Rechtfertigung bedarf. Denn dass wir in einer Demokratie und einem Rechtsstaat leben wollen, versteht sich von selbst. Diese Alternativen sind deshalb schlich nicht diskutabel. Zum Föderalismus gäbe es dagegen theoretisch legitime Alternativen, insbesondere den zentralistischen Staat westlicher Prägung, wie er, wie immer man das bewertet, in Frankreich oder Spanien funktioniert.
Corona: Was ist gut, was ist schlecht gelaufen?
Sager: Ich empfinde diese Aussagen nicht als provokativ, sondern würde zunächst zwei Feststellungen treffen wollen. Erstens: Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie im Gesamtstaat Deutschland – Bund, Länder und Kommunen – ist einiges falsch gelaufen. Zweitens: In der Corona-Pandemie Bekämpfung haben wir in Deutschland vieles richtig gemacht und haben die Krise bisher gut gemanagt. Stehen diese beiden Feststellungen im Widerspruch? Ich meine: nein. Dass wir bisher so gut durch die Krise gekommen sind, führe ich, aus meiner Erfahrung, im Wesentlichen darauf zurück, dass wir in Deutschland dezentral aufgestellt sind. Denn die Hauptlast, also die Arbeit im „Maschinenraum des Staates“, lag natürlich auf der kommunalen Ebene und hier vor allem bei den Kreisen, ohne die die Corona-Bekämpfung nicht funktioniert hätte. Die Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Kanzlerin und die Beschlüsse dieses Gremiums waren weit weg von dem, was auf kommunaler Ebene tatsächlich zu leisten war. Lassen Sie mich außerdem klarstellen: Es ist eine Mär, dass die Gesundheitsämter vor Beginn der Pandemie schlecht aufgestellt gewesen wären. Tatsächlich sind die deutschen Gesundheitsämter – zugegebener Maßen in unterschiedlicher Ausprägung – gut aufgestellt gewesen und haben ihre vielfältigen Aufgaben, zu denen neben der Gewährleistung des Gesundheitsschutzes für die Bevölkerung, z.B. auch die Heimaufsicht, die Hygieneüberwachung in vielen Bereichen, die Durchführung von Schuleingangsuntersuchungen oder die Zahnprophylaxe für die Kleinsten gehören, hervorragend wahrgenommen. Die Pandemiebekämpfung und namentlich die dazu erforderliche Kontaktnachverfolgung sowie die Verfügung und Durchsetzung von Quarantäneanordnungen stellten – und stellen bis heute – selbstverständlich ein immenses Arbeitspensum dar. Auch diese Aufgabenwurden aber in herausragender Weise bewältigt. Dazu mussten die Gesundheitsämter allerdings personell verstärkt werden, überwiegend, in dem wir Kräfte innerhalb der Kreisverwaltung umgeschichtet haben, natürlich aber auch durch externe Unterstützung im Wege der Amtshilfe, namentlich von Seiten der Bundeswehr. Gleiches gilt für den Aufbau der Impfzentren - eine Aufgabe, die uns Mitte November 2020 mit der Vorgabe übertragen wurde, dass der Betrieb ab dem 15.12.2020 sichergestellt sein müsse. Das ist gelungen, was allerdings zunächst fehlte, war der Impfstoff, für dessen Beschaffung allein der Bund verantwortlich zeichnete. Ungeachtet dieser positiven Bilanz würde ich natürlich trotzdem nie behaupten, und deshalb stehen meine beiden Ausgangsthesen auch nicht im Widerspruch, dass alles rund gelaufen ist und dass es keine Schwachstellen gibt, die beseitigt werden sollten. Dazu gehört zB die Kommunikation der Landesregierung mit den Landkreisen: Wichtige Informationen haben uns regelmäßig viel zu kurzfristig erreicht. Auch die Bund-Länder-Abstimmung kann verbessert werden. Trotzdem: Insgesamt haben wir die Aufgabe gut in den Griff bekommen und die Menschen umfassend geschützt.
Waldhoff: Dem würde ich nicht widersprechen, aber ist die Wahrnehmung in der Bevölkerung damit völlig deckungsgleich? Man könnte doch zynisch fragen: Worauf kommt es eigentlich an, darauf, dass die Krise objektiv gut bewältigt wurde, oder darauf, wie die Bevölkerung die Krisenbewältigung – gerade in einem „Superwahljahr“ – subjektiv wahrnimmt?
Sager: Insoweit handelt es sich um eine Wellenbewegung. Dass Impfstoff fehlte oder Masken nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung standen, wurde natürlich negativ aufgenommen. Insgesamt – so mein Eindruck - ist die Bevölkerung in Deutschland mit der Krisenbewältigung aber zufrieden. Versäumt hat es die Politik dagegen, die Eigenverantwortung der Menschen zu betonen. Es gibt nicht den paternalistischen Staat, der jeden und alles schützt und der jemandem, der 88 Jahre alt geworden ist, garantieren kann, auch noch das 89. oder 90. Lebensjahr zu erreichen. Die Verantwortung, auf sich selbst, auf die eigene Familie, auf die Nächsten aufzupassen, hat zu wenig Aufmerksamkeit gefunden und ist - als Ergänzung zu den übrigen Regulierungsmaßnahmen – nicht deutlich genug vermittelt worden.
Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof,
Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.
Kirchhof: Ich würde ähnlich starten. Wenn man das Gesamtgeschehen der letzten 16 Monate betrachtet, hat sich Deutschland - auch im Vergleich zu anderen Ländern wie Indien, Brasilien oder Frankreich – gut geschlagen. Dort gab es viel mehr Schäden als bei uns. Auch die Bürger haben sich, wenn ich das so sagen darf, gut geschlagen. Die Akzeptanz für die Corona-Schutzmaßnahmen ist doch unglaublich groß gewesen. Natürlich gab es auch Kritik, aber im Großen und Ganzen überwog doch die Zustimmung zu Maßnahmen, die mit erheblichen Einschnitten in den Alltag verbunden waren. Das ist auch ein Lob an die Demokratie und an den Rechtsstaat. Auch der Rechtsstaat lebt von Akzeptanz. Zweitens: Ich bin auch sehr einverstanden gewesen mit dem, was in den ersten drei Monaten geschehen ist. Am Anfang war die Situation von einer großen Ungewissheit geprägt, man wusste nicht, als wie schädlich sich das Virus erweisen würde. Deshalb war es auch richtig, dass die Bundeskanzlerin im Fernsehen verkündet hat, man wolle dieser Unsicherheit gleich mit sehr harten Maßnahmen entgegentreten, was dann auf der sehr unsicheren Grundlage des § 28 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) auch geschehen ist. Dann aber folgte nur noch ein „weiter so“. Das war ein Fehler. Man hat den Sommer, die Ferien verstreichen lassen und die einmal beschlossenen Maßnahmen stets aufs Neue wiederholt. Auf höchster Ebene wurde über Kleinteiliges wie die Schließung von Friseursalons oder Gaststätten beraten und entschieden, ohne das verfügbare intellektuelle und wissenschaftliche Potenzial für die Suche nach neuen Wegen der Corona-Bekämpfung zu nutzen. Im Einzelnen richtete sich meine Kritik an dieser zweiten Phase auf folgende Punkte:
Erstens wurde das Ganze zu sehr politisiert. Das beruht vor allem darauf, dass die um die Bundeskanzlerin erweiterte Ministerpräsidentenkonferenz von einem Koordinierungsgremium der Länder zu einem Gremium der zentralen politischen Steuerung mutiert ist, das Anordnungen erlassen sollte, denen die Länder aber nicht immer Folge geleistet haben. Der Staat hat sich entschlossen gezeigt, zentral zu regieren, was falsch war. Insoweit stimme ich in das hohe Lob der Selbstverwaltung ein – nicht, um mir Ihren Beifall zu sichern, sondern weil nach meiner Überzeugung über operative Fragen vor Ort entschieden werden muss. Dass dieses Gremium politisch gesteuert hat, sieht man auch an Nebensächlichkeiten, z.B. an der Verwendung eines sehr politisch geprägten Vokabulars in Form von Begriffen wie „Brücken-Lockdown“ oder „Wellenbrecher-Lockdown“, außerdem gab es „Impfdurchbrüche“ oder „Impfschwänzer“. Auch in anderer Hinsicht wurde der Sachverstand der Gesundheitsversorgungsorganisationen und der Ärzteschaft zu wenig eingeschaltet. Denken Sie an die Beschaffung von Masken, von Test-Kits von Impfstoffen. Das wollte der Bund zentral regeln, auch die Länder haben ihren Anteil eingefordert, um am Ende nicht mit leeren Händen dazustehen. Deshalb hat man eine staatliche Stelle als Einkaufsorganisation eingesetzt. Das musste ja schief gehen – und man wird bei der näheren Prüfung in den nächsten Monaten und Jahren sehen, dass es auch schief gegangen ist, preislich und teilweise auch von der Qualität her. Warum hat man nicht auf die bewährten Organisationen mit medizinischem und wirtschaftlichem Sachverstand gesetzt, die das viel besser können? Man war an der Spitze des Staats in Aufregung, hat neue Strukturen und neue Verfahren geschaffen und krampfhaft versucht, diese in der Hand zu behalten. Das war sicher nicht der richtige Weg.
Zweitens: Auch im Hinblick auf die Krisenbeurteilung hat man sich zu wenig des Sachverstandes der Ärzte bedient. Wenn Sie sich an die Anfänge der Corona-Krise erinnern, so sind – auch in der Außendarstellung – nur einige wenige Epidemiologen und Virologen als Berater der Regierung in Erscheinung getreten, obwohl in den Krankenhäusern und anderenorts der gebündelte Sachverstand der Ärzteschaft zur Verfügung gestanden hat. Das war – von der Personen her gesehen – eine sehr singuläre Steuerung. Ähnlich die Entwicklung beim Impfgeschehen; auch hier wurde die Ärzteschaft zu spät hinzugezogen. Der Grund für die Errichtung der Impfzentren war ja in erster Linie, dass man nicht wusste, wie die zunächst knappen Impfdosen verteilt werden sollten. Deshalb hat es Monate gedauert, bis die Ärzte in die Impfkampagne einbezogen wurden. Allein über die Frage, ob auch die Betriebsärzte impfen sollten, hat man zwei Monate diskutiert, obwohl diese Gewehr bei Fuß standen. Ich glaube, hier wurden die Fehler gemacht. Wir müssen also von oben herdenken, wenn wir die Fehler ermitteln wollen.
Drittens: Was für mich sehr enttäuschend war, war das Parlament. Das Parlament hat sich fast verweigert. Das Parlament hat im Grunde genommen nur zwei Dinge gemacht. Das erste war die Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, was sehr weitgehende Wirkungen hat, z.B. auch, weil dadurch die Grundrechtsbarrieren abgesenkt und damit weitreichende Maßnahmen möglich wurden. Außerdem hat das Parlament den § 28a IfSG geschaffen, ein Gesetz, das in seinem erste Absatz 17 Eingriffsmaßnahmen aufzählt. Das ist eine Wunschliste der Verwaltung gewesen, die das Parlament ohne großes Zögern übernommen hat. Stattdessen hätte das Parlament die Aufgabe gehabt, die inhaltliche Steuerung in die Hand zu nehmen, zu sagen, was zulässig und was nicht zulässig ist. Und vor allem hätte es auch die gegenläufigen Grundrechte etwa der Unternehmer, der Gewerbetreibenden, der Gastronomen, der Kinder, die in die Schule wollen, der Studenten, die die Universitäten besuchen wollen, mit aufnehmen müssen. Die Grundrechtsabwägung, das ist seit Jahrzehnten ständige Rechtsprechung, obliegt in erster Linie dem Parlament. Was hat das Parlament stattdessen gemacht? Es hat die von der Verwaltung gewünschte Liste der Eingriffsmöglichkeiten schlicht abgesegnet. Die entgegenstehenden Grundrechte werden im Sinne eines Appells nur an einer Stelle, nämlich in § 28a Abs. 6 IfSG erwähnt, wenn es heißt, dass die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen berücksichtigt werden müssen, soweit sie den Zielen der Corona-Bekämpfung nicht widersprechen. Aber eine materielle, inhaltliche Abwägung für die einzelnen Maßnahmen, also wann darf ein Lockdown angeordnet werden, wann dürfen Schulen geschlossen werden etc., hat das Parlament nicht vorgenommen. Es ist zwar richtig, dass sich der Bundestag mit sehr vielen Gesetzen zu Corona befasst hat, allerdings ging es dabei nicht unmittelbar um die Corona-Bekämpfung, sondern um die Regulierung von Folgefragen, z. B. im Insolvenzrecht. Der eigentlichen Aufgabe einer inhaltlichen Steuerung durch entsprechende Vorgaben an die Verwaltung hat sich das Parlament dagegen verweigert.
War der Bundestag ausreichend beteiligt?
Waldhoff: Mit dem zweiten Teil Ihrer Ausführungen kann ich mich voll identifizieren. Trotzdem eine kritische Nachfrage: Ist es nicht ein Widerspruch, einerseits eine zu weitgehende Politisierung zu beklagen und andererseits eine stärkere Rolle des Parlamentes einzufordern? Ich würde im Gegenteil die These wagen, dass Corona viel zu wenig politisiert wurde, weil man in der Anfangsphase, darauf haben Sie ja auch hingewiesen, zu viel den Epidemiologen oder Virologen zugehört hat - Herr Drosten ist insoweit nur die Spitze des Eisbergs, der einen unglaublichen Einfluss mit seinen Blogs und Podcasts hatte. Richtig ist jedenfalls, dass die medizinischen Notwendigkeiten abgewogen werden müssen mit den Notwendigkeiten der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Privaten, wie sie sich in den Grundrechten abbilden. Das ist zu kurz gekommen. Mit den eigentlichen Kernfragen im Zusammenhang mit Corona, mit den Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes und ihrer grundrechtlichen Absicherung, hat sich das Parlament - erstens - relativ spät und - zweitens - relativ oberflächig beschäftigt, in dem diese so wichtigen grundrechtlichen Abwägungen nicht wirklich stattgefunden haben. Meine Schlussfolgerung daraus wäre: Der Konsens der Bevölkerung ist ja nicht einhellig. Hoffentlich ist er größer, als ich befürchte, aber Querdenker und die obskuren Teile der Gesellschaft leisten ja massiv Widerstand. Gott sei Dank handelt es sich dabei um Minderheiten, sonst hätten wir ganz andere Probleme. Aber diese Personen wurden doch auch deshalb nicht eingefangen, weil über die zentralen Fragen der Pandemiebekämpfung nicht vernünftig im Parlament debattiert wurde- oder?
Kirchhof: Was die Querdenker angeht, so haben wir es, so meine ich, mit einem anderen gesellschaftlichen Problem zu tun. Wir diskutieren, sei es politisch und auch in anderen Bereichen, nicht mehr mit Argumenten zu einem Gegenüber, der vielleicht auch gute Argumente hat, den ich vielleicht überzeugen kann, dem es aber vielleicht auch gelingt, mich zu überzeugen. Wir haben heute vielmehr nur noch missionarische Diskussionen: Der Eine weiß ganz genau, dass es Corona nicht gibt. Und wenn jemand anders dagegen argumentiert, hört er nicht hin, sondern dann ist dies der Feind. Diskussion also nicht als Möglichkeit, zu besseren Ergebnissen zu kommen, sondern als Auseinandersetzung, in der gesiegt werden muss. Und sollte der Missionar nicht siegen, kämpft er noch mehr, weil ja das Böse gesiegt hat, nicht das Wahre und Gute, für das er kämpft. Das haben wir in unserer Gesellschaft seit etwa 15 Jahren. Es ging los mit den Kernkraftgegnern. Man kann mit guten Argumenten für oder gegen Kernkraft sein. Aber es gibt Leute, die haben aus dieser Frage ein Credo, eine Weltanschauung, fast eine Religion gemacht. Dieses Muster spielt jetzt auch in der Corona-Diskussion eine Rolle, ohne ihr Spezifikum zu sein. Ich will außerdem festhalten: Wenn wir in einer Demokratie eine 2/3-Mehrheit haben, und diesen Zustimmungswert erzielen wir im Hinblick auf die Corona-Maßnahmen sicher, sind wir auf der sicheren Seite. Eine solche Mehrheit würde im Parlament ja schon für eine Verfassungsänderung reichen, es handelt sich also um die höchste Sicherheitsstufe, die wir bei Abstimmungen erreichen können.
Sager: Trotzdem ist es so, dass der Bundestag nicht Taktgeber war in der Corona-Pandemie. Was gefehlt hat, war eine große Debatte über das weitere Vorgehen gleich am Anfang der Pandemie, also noch vor den Sommerferien 2020. Auch ein gemeinsames Bekenntnis der Bundesländer hat mir gefehlt. Das Parlament ist erst im Nachhinein aktiv geworden und hat sich dann auch nur an der Oberfläche mit den relevanten Fragen beschäftigt. Die Querdenker-Szene wird dadurch aber nicht erklärt. Denn diese Leute wollen nur stören und wollen keine Fakten zur Kenntnis nehmen. Sie sehen nur sich und vermischen sich zudem mit Extremen auf der linken und rechten Seite.
Waldhoff: Mein Ansatz war ja: Wenn man die grundrechtliche Abwägung, die dann eine grundrechtliche Abwägung im Parlament gewesen wäre, expressiver, demonstrativer, öffentlicher, erklärender gemacht hätte, dann wäre die performativ-symbolische Funktion des Parlamentarismus, auf die sich auch Hans Michael Heinig in einem aktuellen Beitrag in der FAZ bezieht, besser zum Tragen gekommen. Außerdem hätte man auch gegenüber den Gegnern der Maßnahmen besser argumentieren und darauf verweisen können, dass das Parlament alle relevanten Aspekte sorgfältig abgewogen und am Ende entschieden hätte.
Kirchhof: Das ist die eine Seite der Medaille, die andere Seite ist die demokratische Legitimation für die harten Eingriffsmaßnahmen. Dafür brauchen wir das Parlament. Auf einer solchen Grundlage kann man auch mit ganz anderem Rückgrat als Verwaltung agieren, als wenn die Maßnahmen auf Beschlüsse eines obskuren Steuerungsgremiums zurückgehen, das gruppendynamisch immer nervöser wird, weil es sieht, dass bestimmte Maßnahmen nicht greifen, und deshalb zu dem Ergebnis kommt, noch härter durchgreifen zu müssen. Die von Ihnen, Herr Waldhoff, beschriebene Rolle des Parlaments ist fraglos wichtig. Aber seine wichtigste Funktion bleibt doch die Vermittlung von demokratischer Legitimation für Maßnahmen wie den Lockdown, die Maskenpflicht, vielleicht auch für auf bestimmte Berufsgruppen bezogene Impfpflichten.
Dezentral oder zentral?
Waldhoff: Ich komme noch mal auf die Frage zurück, welche Aufgaben in der Pandemie zentral, welche dezentral erledigt werden sollten. Das Grundgesetz gibt insoweit eine bestimmte Grundentscheidung für den dezentralen Vollzug vor. Aber, Herr Sager, § 5 Abs. 1 IfSG setzt ja die bundesweite Dimension einer Pandemie voraus, damit der Bundestag eine Notlage von nationaler Tragweite ausrufen und damit eine Reihe von Sonderrechten und Eingriffsbefugnissen aktivieren kann. Steht es nicht im Widerspruch dazu, wenn die kommunale Ebene, was mir prinzipiell sehr sympathisch ist, für einen dezentralen Vollzug wirbt.
Landrat Reinhard Sager,
Präsident des Deutschen Landkreistages
Sager: Richtig, wir haben eine pandemische Lage in ganz Deutschland; damit sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 IfSG erfüllt. Richtig ist aber auch, dass sich diese pandemische Lage in den einzelnen Regionen und auf der Zeitschiene sehr unterschiedlich auswirkt. Wir als Kreise verlangen ja nicht, selbst über das Bestehen einer solchen Notlage entscheiden zu können. Aber gerade weil sich die Pandemie so unterschiedlich auswirkt, muss regional und lokal entschieden werden, mit welchen Maßnahmen ihr begegnet werden soll. In meinem Kreis gab es bspw. einen Ausbruch in einem größeren Hotel. Dagegen sind wir mit gezielten Maßnahmen vorgegangen, sind aber nicht auf die Idee gekommen, eine umfassende Ausgangssperre z.B. am Strand zu verhängen. Auf anders geartete Ausbrüche wie hier in Gütersloh muss natürlich anders reagiert werden. Das Infektionsschutzgesetz hat sich bewährt, aber es muss in seiner Ausprägung von Bundesland zu Bundesland und von Kreis zu Kreis unterschiedlich gehandhabt werden. Und wenn wir z.B. an die Kreise Heinsberg und Tirschenreuth denken, meine ich, dass das auch im Großen und Ganzen gut gelungen ist, auch wenn natürlich nicht alles perfekt gewesen ist. Und in Frankreich oder Spanien sind wir ja nicht besser durch die Pandemie gekommen, sondern eher schlechter. Die Dezentralität war und ist daher ein Pfund in der Bekämpfung einer solchen Seuche.
Waldhoff: Dem würde ich im Grundsatz zustimmen. Dass der Vollzug dezentral sein muss, ist sozusagen gesetzt. Aber der Bundesgesetzgeber hätte doch § 32 IfSG um eine Verordnungsermächtigung für die Bundesregierung oder das Bundesgesundheitsministerium ergänzen können. Eine solche Rechtsverordnung des Bundes wäre dann landesweit die Grundlage für den Vollzug gewesen. Auf die Landesverordnungen hätte man verzichten können. Die Interessen der Länder hätten durch einen Zustimmungsvorbehalt des Bundesrats gewahrt werden können. Außerdem hätte man sich diese zu Recht viel kritisierte, merkwürdige und nirgends geregelte Konstellationen der Runden der Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin sparen können, weil ja das Koordinierungsproblem weggefallen wäre.
Sager: Ich halte dies für eine nur theoretische Möglichkeit. Es kann sich doch niemand hier im Raum vorstellen, dass der Bundesgesundheitsminister mit einer zentralen Anordnung diese Pandemie auch nur im Ansatz irgendwo besser gemanagt hätte als das dezentrale System über 16 Bundesländer und 294 Kreise. Der Bund war im Grunde doch mit allen operativen Aufgaben überfordert, mit der Maskenbeschaffung, mit den Testsystemen etc. Und die sog. „Bundesnotbremse“ ist doch der beste Beleg dafür, dass Zentralität im gegebenen Zusammenhang nicht funktioniert. Wir haben uns immer dagegen verwahrt, dass man versucht, über Deutschland etwas zu stülpen, woran dann jeder gehalten ist, auch wenn die Verhältnisse vor Ort elementar anders, sind als sie vom Gesetz- oder Verordnungsgeber auf der Bundesebene gesehen werden können.
Kirchhof: Die Verteilung von Zuständigkeiten ist immer eine schwierige Frage. Um einmal militärische Begriffe zu verwenden: Das strategische Geschäft, das sollte der Bund übernehmen, also insbesondere die Regelsetzung. Das operative Geschäft des Vollzuges sollte dagegen auf der Ebene der Länder und Kommunen verortet werden. Deshalb ist es richtig, wenn der Bund die Grundlagen für von der Verwaltung vorzunehmende Maßnahmen regelt. Falsch ist es dagegen, wenn der Bund, wie im Falle der „Bundesnotbremse“, alles zwingend vorgibt und zum entscheidenden Kriterium auch noch einen Inzidenzwert erklärt, von dem wir alle wissen, dass er nicht aussagekräftig ist. Die Bundesnotbremse stellt ein bloßes Machtwort der Bundesebene in dem Sinne dar: Wenn ihr Länder nicht funktioniert, dann geben wir alles bundeseinheitlich vor.
Sager: ... was zu dem absurden Ergebnis führte, dass auch auf der Insel Helgoland eine Ausgangssperre galt, obwohl es dort keinen einzigen Corona-Fall gab.
Die Rolle der Rechtsprechung
Waldhoff: Dem würde ich zustimmen. Die „Bundesnotbremse“ war der zentralistische „Overkill“ im Sinne einer Übersprungreaktion. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob eine Bundesrechtsverordnung nicht doch manches abgefedert hätte. Das sei dahingestellt. Zu einem anderen Thema: Herr Hoppenstedt hat sich in seinem Grußwort eher kritisch zur Rolle der Rechtsprechung geäußert. Rechtsprechung zu Corona-Maßnahmen liegt uns im Moment im Wesentlichen nur in Form von Eilentscheidungen vor. Das ist bei einer Bewertung selbstverständlich zu berücksichtigen. Trotzdem: Wie beurteilen Sie die Rechtsprechung? Gibt es auch hier im Sinne meiner Kritik am Parlament zu wenig Deliberation, zu wenig politischen Diskurs - zumal vielfach die Rede davon ist, das BVerfG ersetze mitunter eine fehlende parlamentarische Diskussion in dem Sinne: Wenn das Parlament nicht mehr alle politischen Meinungen abbildet, dann kommen sie jedenfalls beim BVerfG zum Tragen.
Zahlreiche Gäste erschienen zur Podiumsdiskussion auf der Burg Vischering
Kirchhof: Zur Verwaltungsgerichtsbarkeit: Richtig, aus Zeitgründen konnte bisher im Wesentlichen nur in Eilverfahren entschieden werden. Das gibt es allerdings in anderen Bereichen wie dem Asylrecht auch. Es ist also nichts Neues, wenn ganze Rechtsgebiete zunächst im einstweiligen Rechtsschutz bearbeitet werden, bis sich die Chance eines Grundsatzurteils in einem Hauptsacheverfahren ergibt. Ich glaube, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit – wieder cum grano salis – eine sehr gute Rolle wahrgenommen hat. Sie hat angesichts eines überreizten, ja fast hysterisch agierenden Staates auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip hingewiesen. Und die Verwaltungsgerichte – auch zweiter Instanz – haben immer wieder entscheiden, dass für bestimmte Maßnahmen die Voraussetzungen nicht gegeben waren. Das ist ein Signal an Politik und Verwaltung, vorsichtig zu sein und das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hat in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung eine überragende Rolle gespielt - und das war richtig so. Was die Verfassungsgerichtsbarkeit angeht, so bitte ich um Verständnis, wenn ich mich dazu als ehemaliger Vizepräsident und Vorsitzender des insoweit zuständigen Ersten Senats nicht äußern möchte. Das wäre unangemessen.
Waldhoff: Volles Verständnis. Herr Sager, wie sehen Sie das?
Sager: Ich möchte aus der Sicht des Praktikers eine Lanze für die Rechtsprechung brechen. Wir als Kreis haben im letzten Jahr durch Allgemeinverfügungen Einreiseverbote für die Personen mit Zweitwohnungen und Beherbergungsverbote verhängt, das Land hat entsprechende Rechtsverordnungen erlassen. Soweit ich die Rechtsprechung insbesondere der Gerichte in Norddeutschland beobachtet habe, kann ich nur sage, dass die Richter Augenmaß bei der Berurteilung unserer und der Maßnahmen des Landes haben walten lassen und besonnen ihre Entscheidungen getroffen haben - und das sage ich nicht, weil unsere Allgemeinverfügungen am Ende Bestand hatten. Das gilt es festzuhalten, weil es ein Beleg dafür ist, dass der Rechtsstaat funktioniert. Über der Verwaltung ist eben nicht der blaue Himmel, sondern der Rechtsweg steht offen und wird auch genutzt. Das stabilisiert unser rechtsstaatlich-demokratisches System.
Impfpflicht – allgemein oder nur punktuell?
Waldhoff: Wenn wir uns über die Lehren aus der Pandemie unterhalten, kommen wir schnell auf die Frage der Impfpflicht, eine Frage, die mich auch persönlich sehr interessiert. Wir hatten in Deutschland - und das hat das BVerfG in seiner Rechtsprechung abgesegnet - auch früher schon Impfpflichten. Zwar gab es immer schon Impfkritiker, richtig aufgeregt darüber hat sich aber so recht keiner. Jetzt wird allerdings von politischer Seite gesagt, eine Impfpflicht sei weder rechtlich noch politisch denkbar. Es wird – m. E. zu vorschnell und noch bevor die Diskussion dazu überhaupt beginnen konnte – also ein großer Abstand zur Impfpflicht - sei es generell, sei es für bestimmte Berufsgruppen – geschaffen.
Kirchhof: Die Impfpflicht ist natürlich ein verfassungsrechtliches Problem. Es handelt sich um einen körperlichen Eingriff; damit sind die Grundrechte gefragt. Wir brauchen also zur Abwägung Rechtsgüter allgemeiner Art, die gewichtiger sind als der individuelle „Piks“, der eben nicht nur in den Körper, sondern auch in die Grundrechte geht. Ob eine allgemeine Impflicht zulässig ist, lässt sich im Augenblick schwer beurteilen. Dafür müsste man wissen, wie groß aktuell das Risiko durch Corona noch ist und wie es sich insbesondere auswirkt, dass bereits ein erheblicher Teil der Bevölkerung geimpft ist. Sollte jetzt bspw. die Pest ausbrechen und gäbe es dagegen einen Impfstoff, dann wäre eine Impfpflicht m. E. zu rechtfertigen. Bei Corona habe ich dagegen noch Zweifel. Die Frage einer allgemeinen Impfpflicht stellt sich dagegen gegenwärtig auch nicht, was natürlich nicht ausschließt, dass wir uns über ihre Zulässigkeit Gedanken machen. Anders könnte die Beurteilung bei berufsbezogenen Impflichten ausfallen. Einer Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen würde ich durchaus positiv gegenüberstehen. So könnte man gerade bei Heilberufen sagen, dass es dabei nicht nur darum geht, zu heilen, sondern dass es die Aufgabe von Ärzten und Pflegenden ist, auch die Patienten vor gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu bewahren, also nicht zu infizieren. Natürlich müsste man sich konkret ansehen, um welche Berufsgruppe es geht und welche Gefahrenlagen insoweit bestehen.
Waldhoff: Von dem Ziel einer Herdenimmunität sind wir angesichts der aktuellen Impfzahlen ja noch weit entfernt. Allein mit Überzeugungsarbeit, die nach meiner Beobachtung bislang auch eher suboptimal gelaufen ist, dürften wir dieses Ziel auch nicht mehr erreichen. Wie sehen Sie das, Herr Sager.
Sager: Das stimmt, allerdings ist wissenschaftlich auch umstritten, welche Impfquote insoweit erreicht werden müsste. Anfangs war von 60 Prozent die Rede, jetzt von wesentlich höheren Werten. In jedem Fall müssen wir die Impfquote erhöhen, und das wird uns nach meiner Überzeugung auch gelingen. Es war eine richtige Entscheidung der Politik, dass Testungen ab Oktober nicht mehr kostenlos sind. Das führt schon jetzt zu einer höheren Zahl von Anmeldungen in den Impfzentren, denn natürlich kalkulieren die Bürger mit den Kosten, die auf sie zukommen, wenn sie künftig bei einem Restaurantbesuch nicht nur das Essen, sondern auch noch den Test bezahlen müssen. Eine Impfpflicht lehne ich dagegen ab, weil damit zu rechnen ist, dass wir zumindest einige Impfgegner dann auch mit Polizeigewalt zur Impfung zwingen müssten. Das mag ich mir nicht vorstellen. Was die Impfung bestimmter Berufsgruppen geht, greift Herr Kirchhof eine Forderung des Deutschen Landkreistags auf. Außer für Heilberufe kann ich mir z.B. eine Impflicht auch für Busfahrer vorstellen, etwa wenn ein Stadtwerk entscheidet, künftig nur noch Geimpfte einzustellen. Ich halte das für angemessen.
Kirchhof: Das Beispiel des Busunternehmers führt uns m. E. an die Grenze des noch Zulässigen. Wenn Sie ein kommunales Busunternehmen betrachten, und der Stadtrat entscheidet sich dafür, eine Impfpflicht vorzugeben, mag das noch möglich sein. Wenn aber ein privater Unternehmer so entscheidet, etwa weil er ein Signal für das Impfen setzen will, hätte ich große Bedenken. Der Arbeitnehmer schuldet aufgrund des Arbeitsvertrages nur seine Arbeitsleistung. Wie er sich in seinem persönlichen Bereich verhält, geht den Arbeitgeber im Grundsatz nichts an. Anders wiederum, wenn es eine staatlich angeordnete Impfpflicht für alle Busfahrer gibt. Auch bei Beamten könnte es anders sein, weil dieser sogar die Pflicht haben, sich einer Operation zu unterziehen, um ihre Dienstkraft zu erhalten. Ich kann und möchte die Grenzen hier nicht abschließend ziehen, rate aber jedenfalls zu Vorsicht, wenn es sich um Vorgaben privater Arbeitgeber handelt.
Waldhoff: Die indirekte Impflicht, die darauf beruht, dass man den Freiheitsraum der Nichtgeimpften immer stärker einschränkt - was ich als Lösung ansehen würde - kann natürlich auch in einen Grundrechtseingriff umschlagen.
Kirchhof: Aber nur, wenn dies das Ziel ist. Das faktisch Druck aufgebaut wird, reicht nicht, es müsste ein intentionales Moment vorhanden sein.
Waldhoff: Das ist doch der Fall. Man will die Menschen mit solchen Maßnahmen doch gerade zum Impfen bewegen. Deshalb kann man wohl von einer Lenkungswirkung ausgehen.
Kirchhof: Das ist ja gerade die Frage. Vielleicht gibt es auch - und insoweit würde ich sogar eine Prognose wagen - einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft, vor allem in der Jugend. Wir werden zwei Gruppen haben: die Genesen und Geimpften sowie die Umgeimpften. Und diese werden immer mehr zu „Parias“ werden. Wenn die Disko geöffnet ist, darf eine Gruppe, die zwangsläufig immer kleiner werden wird, nicht rein. Ich glaube, dass wird die Impfzahlen steigen lassen.
Föderalismus muss erklärt werden
Prof. Dr. Christian Waldhoff,
Präsidiumsmitglied der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.
Waldhoff: Es handelt sich ja auch um ein soziales Problem. Nach allem was wir wissen, korreliert die Impfbereitschaft häufig mit dem Bildungsstand. Noch einmal zurück zum Thema Föderalismus. Ich habe kürzlich gelesen, ein Föderalismus, den die Bürger nicht verstehen, weil er so komplex ist, habe es schwer, und habe es noch schwerer, wenn die Journalisten ihn nicht verstehen. Vor diesem Hintergrund: Sind wir nicht vielleicht auch in einer Art föderalen – und das meint immer auch die Selbstverwaltung – Komplexitätsfalle, die den Ruf nach Zentralität nicht unausweichlich, aber doch sehr plausibel erscheinen lässt.
Sager: Die Frage ist berechtigt. Immerhin hat auch die Bundeskanzlerin wiederholt geäußert, es sei doch völlig egal, welche staatliche Ebene agiere und war die dabei entstehenden Kosten trage. Wichtig sei allein, den Bürgern eine Lösung zu präsentieren. Wir als Deutscher Landkreistag haben dazu eine andere Auffassung. Es ist gerade das Problem, dass sich insbesondere der Bund nicht mehr an die Zuständigkeitsordnung hält und es damit auch dem Bürger – sowie ggf. auch dem Journalisten – schwer macht zu erkennen, wer eigentlich für was zuständig ist. Es gibt unzählige Beispiele einer organisierten Unverantwortlichkeit oder einer unverantwortlichen Organisation. Das ist schlecht und gefährdet auch einen nachvollziehbaren Föderalismus, in dem die Zuständigkeiten eigentlich klar geregelt sind. Das gilt auch für den Finanzbereich. Es schreien viele nach finanzieller Hilfe des Bundes, obwohl allein die Länder für die Finanzausstattung der Kommunen verantwortlich sind.
Kirchhof: An dieser Stelle möchte ich Herrn Waldhoff unterstützen. Ich glaube auch, dass die von ihm beschriebenen Herausforderungen zu den größten Gefährdungen für den Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung gehören, obwohl es sich im Wesentlichen um ein Kommunikationsproblem handelt. Die Bevölkerung in Deutschland denkt zentral und ruft reflexhaft nach einheitlichen Regelungen. Insoweit haben Länder und Kommunen nach meinem Dafürhalten eine Bringschuld. In der Bevölkerung ist noch ausreichend dargestellt, wie wichtig kommunale Selbstverwaltung ist und welcher persönliche Ertrag sich damit für den Einzelnen verbindet.
Waldhoff: Ich habe auch eine Theorie, warum der Föderalismus in Deutschland auf so wenig Akzeptanz stößt: Die Reichsverfassung von 1871 begründete einen Fürstenbund, der gegen die wirkmächtigen liberalen und demokratischen Ideen des 19. Jahrhunderts stand. Die beiden klassischen, vorangegangen Bundesstaaten – USA 1787 und die Schweiz 1848 – waren dagegen genuin demokratisch-republikanische Gründungen, so dass die Verwurzelung des Föderalismus im Volk dort logischerweise eine ganz andere sein muss als bei uns. Dieser ursprünglich antidemokratische Affekt des Föderalismus dürfte dafür verantwortlich sein, dass hierzulande in abwertender Weise von „Kleinstaaterei“ und „Flickenteppich“ gesprochen wird, wenn man differenzierende Regelungen in der Fläche angreifen will, und zwar bis in Unions-Kreise hinein.
Brauchen wir eine Enquete-Kommission?
Waldhoff: Zum Abschluss nun noch die Frage, in welchem institutionellen Rahmen – über die selbstverständlich notwendige Analyse hinaus – Lehren aus der Corona-Krise gezogen werden sollen. Welchen Vorschlag haben Sie dazu, Herr Sager? Brauchen wir eine Enquete-Kommis-sion im Bundestag oder etwas ähnliches?
Sager: Ich glaube nicht, dass wir so etwas brauchen. Ich betone noch einmal: Im Prinzip haben sich die dezentralen Strukturen der Pandemiebekämpfung in Deutschland bewährt. Wir benötigen keine anderen Prozesse und Institutionen, sondern mehr Vernetzung. Erforderlich ist ferner eine Bestandsaufnahme – insbesondere, was das Zusammenwirken der Länder mit der kreiskommunalen Ebene angeht, aber auch an den Bund sind sicher einige kritische Fragen zu richten. Ferner wird es erforderlich sein, den öffentlichen Gesundheitsdienst insgesamt zu stärken. Dass wir dafür eine Enquete-Kommission benötigen würden, sehe ich nicht.
Viele Mitglieder der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V. und Gäste im Auditorium
Kirchhof: Sie wissen ja: Wenn wir ein Problem nicht lösen, dann ist die erste Form der Beerdigung, dass wir eine Kommission gründen. Das würde ich im vorliegenden Fall nicht tun. Vielmehr sollten das Parlament und die Ministerien selbst die Aufarbeitung übernehmen. Den bestehenden Strukturen muss, ich darf dies einmal so formulieren, beigebracht werden: Ein „weiter so“ geht nicht. Auf die nächste Hongkong-Grippe darf nicht mit § 28, oder gar § 28a IfSG reagiert werden; dann würde der Grundrechtseingriff von einer Sonderlage zur Normallage. Das gilt es, zu verhindern.
Waldhoff: Dem würde ich nicht prinzipiell widersprechen, es bleibt aber die Herausforderung, dass es kein Format gibt, in dem Bund und Länder einschließlich der kommunalen Ebene zusammenkommen können.
Kirchhof: Doch. Wir haben Bundestag und Bundesrat und die für die Gesetzgebung vorgesehen Konsultationsverfahren. Hinzukommt, was aus den Ländern über die Parteischienen beigetragen wird.
Waldhoff: Das ist eine sehr positive Einschätzung, der ich entgegenhalten möchte: Der Bundestag, der die Politisierung nicht gut bewältigt hat, soll sich nun in der Aufarbeitung der Krise bewähren?
Kirchhof: Der Bundestag ist überrumpelt worden und dann hat er sich ins Schneckenhaus zurückgezogen. Mittlerweile hat er aber gelernt und weiß, dass er den Kopf nicht weiter in den Sand stecken kann. Jetzt muss er liefern.
Der Datenschutz und seine Grenzen
Waldhoff: Zu den Querschnittsthemen, die man m.E. bei einer solchen Rückschau besonders kritisch in den Blick nehmen müsste, gehört der Datenschutz. Der Datenschutz verhindert viel Gutes in Deutschland. Er hat zwar einen wahren Kern, aber blockiert auch manch Sinnvolles. Die Corona-App z.B. funktioniert nicht richtig, weil sie aus Gründen des Datenschutzes nicht vernünftig aufgesetzt werden konnte. Auch bestimmte Datenübermittlungen zwischen Gesundheitsämtern und anderen Institutionen steht der Datenschutz entgegen. Deshalb könnte man den Eindruck haben, das Datenschutzrecht habe den Charakter eines naturrechtlichen Übergrundrechts, das durch die Existenz von 17 Datenschutzbeauftragten so institutionalisiert ist, dass die Politik sich gar nicht mehr traut, ihn zu relativieren, auch wenn es vielleicht noch wichtigere Ziele wie den Bevölkerungsschutz gibt.
Kirchhof: Der Datenschutz ist ja nur bei persönlichen Daten gefragt. Wenn es sich nicht um persönliche Daten, sondern um Statistiken handelt, wie das bei der Pandemiebekämpfung zumeist der Fall ist, dann genügen anonymisierte Daten. Dafür spielt der Datenschutz dann keine Rolle. Außerdem: Die gesamte Rechtsprechung des Ersten Senats des BVerfG zum Datenschutz kann man natürlich auch als Argument einsetzen, wenn man nicht mehr weiterreden will. Wir haben aber immer gesagt, dass der Datenschutz abgewogen werden muss mit dem Gut, zu dessen Schutz in ihn eingegriffen werden soll. Der Datenschutz ist also keine absolute Mauer, die nicht zu überwinden wäre. Sehr hart gewesen sind wir - wie ich meine zu Recht - bei der anlasslosen Datenspeicherung. Hier fehlte das Schutzargument, weil es um das Sammeln von Daten auf Vorrat ging. Erforderlich ist vielmehr immer ein ganz konkreter Eingriffsgrund, wie er im Fall von Pandemien vorliegen kann. Manchmal ist die Berufung auf den Datenschutz in der Politik also ein Totschlagsargument.
Waldhoff: Es wird jedenfalls bewusst instrumentalisiert.
Sager: Der Datenschutz muss spätestens dort seine Grenzen finden, wo Leben und Gesundheit der Bürger auf dem Spiel stehen. Den Gesundheitsämtern geht es nicht darum, Datenschätze anzulegen. Deshalb ist es richtig, dass Fragen des Datenschutzes auf den Prüfstand gehören. Es muss so sein, dass die Daten der relevanten Apps den Gesundheitsämtern für ihre Aufgaben zur Verfügung stehen.
Fazit
Waldhoff: Zum Ende möchte ich Ihnen noch die Möglichkeit zu einer Schlussmessage in drei Sätzen geben. Was ist die Lehre aus der Pandemie, Herr Kirchhof?
Kirchhof: Die Lehre ist: Der Staat muss jetzt als Aufgabe nachdenken, wie wir mit solchen Fällen künftig umgehen. Der Staat muss die Organisationsformen und vor allem die Ebenen, in bzw. auf denen die Krisenbewältigung stattfinden soll, streng trennen nach strategischen und operativen, also nach regelnden und durchführenden Aufgaben. Außerdem sollte der Staat nicht hysterisch werden, sondern sich auf bestehende Strukturen wie die Ärzteschaft oder die Krankenhäuser stützen und nicht überhastet neue schaffen. Das gilt auch mit Blick auf die Wirtschaft, deren Hilfsangebote man nicht angenommen hat, weil man alles unter der eigenen Ägide haben wollte.
Sager: Erstens muss eine Lehre sein, dass die Menschen stärker als bislang begreifen, dass der Staat nicht alles regeln und sie nicht vollständig schützen kann, dass also auch Eigenverantwortung gefragt ist. Dieser Aspekt ist zu kurzgekommen, ja sogar auf der Strecke geblieben. Zweitens bedarf es einer Schwachstellenanalyse hinsichtlich des Zusammenwirkens von Bund, Ländern und Kommunen, um auf kommende Ereignisse besser vorbereitet zu sein. Drittens will ich noch einmal betonen, dass die Schnittstellen so geschaffen werden, dass die Ebenen miteinander kommunizieren können und die Vernetzung besser gewährleistet ist.
Waldhoff: Damit sind wir wieder im Maschinenraum des Staates angekommen. Ich danke Ihnen für Ihre Diskussionsbereitschaft!
Programm
19:00 Uhr | Empfang mit westfälischen Tapas
19:30 Uhr | Begrüßung
Dr. Christian Schulze Pellengahr | Landrat des Kreises Coesfeld
Einführung
Dr. Dietrich H. Hoppenstedt | Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.
Diskussion
Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof | Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.
Reinhard Sager | Präsident des Deutschen Landkreistages und Landrat des Kreises Ostholstein
Prof. Dr. Christian Waldhoff | Humbold-Universität zu Berlin, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht
Herr Prof. Dr. Waldhoff hat zugleich die Moderation inne.
Ausklang mit Imbiss
Anmeldung leider schon geschlossen!
» mehr
Bewerbungsverfahren bereits abgeschlossen
» mehr
Cookies:
Diese Webseite nutzt Cookies um unser Angebot nutzerfreundlicher, effektiver und sicherer zu machen. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.