Öffentliche Vorträge

06.11.2019: 18.30 Uhr | Haus der Geschichte
Willy-Brandt-Allee 14 | 53113 Bonn

Mitgliederversammlung und öffentliche Abendveranstaltung
mit den Gesprächspartnern

Vizekanler a.D., Franz Müntefering, und Vizepräsident des BVerfG a.D., Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof,
unter Moderation von Prof. Dr. Hans-Günter Henneke


70 Jahre Grundgesetz: Sind die Eckpfeiler des Bundesstaates morsch geworden?

von Dr. Klaus Ritgen, Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.

Fotos, sofern nicht anders angegeben: © Stein-Gesellschaft/M. Magunia

 

 70 Jahre GG Kopfbild © Stein-Gesellschaft/Marlitt Schulz

 

Die Mitgliederversammlung 2019 der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft fand an einem beson­deren Ort und in einem besonderen Rahmen statt. Das Inkrafttreten des Grundgesetzes vor nunmehr siebzig Jahren bot den Anlass, die Mitglieder der wenig später gegründeten Gesell­schaft nach Bonn einzuladen. Als Kooperationspartner konnte die Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ gewonnen werden, die ihre Räumlichkeiten zur Verfügung stellte und den Gästen der Veranstaltung darüber hinaus auch einen Besuch an historischen Orten der Demokratie in Deutschland ermöglichte: Auf dem Programm stand nicht nur eine Besichtigung des ehemaligen Plenarsaals des Bundesrates am Rheinufer, der seinerseits in den Räumlichkeiten der Pädagogischen Akademie untergebracht war, in denen der Parlamentarische Rat das Grundgesetz erarbeitet und verabschiedet hatte. Besichtigt wer­den konnte vielmehr auch der sog. „Kanzlerbungalow“, also jenes 1964 im Park der Villa Ham­merschmidt fertiggestellte Gebäude, das in der Nach-Adenauer Ära der „Bonner Republik“ den Kanzlern Erhard, Kiesinger, Schmidt und Kohl als Wohnsitz diente – während es Willy Brandt vorzog, auch als Kanzler eine schon in seiner Zeit als Außenminister genutzte Villa auf dem Bonner Venusberg zu bewohnen.


Derart eingestimmt, fanden sich die Mitglieder der Gesellschaft am Nachmittag im Haus der Geschichte zusammen, um wichtige Beschlüsse zu fassen. Bonn ist heute nur noch Bun­desstadt und nicht mehr Sitz der Regierung der Bundesrepublik und auch die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft hat wesentliche Teile ihrer Aktivitäten in die Bundeshauptstadt Berlin ver­lagert. Diesen Übergang von der „Bonner“ in die „Berliner Republik“ vollzog sich für die Gesellschaft vor allem in den Jahren nach 2008 und war – woran der Präsident der Gesell­schaft Dr. Dietrich H. Hoppenstedt erinnerte – mit einem größeren Revirement in ihrem Präsi­dium verbunden. Auch jetzt war es wieder Zeit für einen personellen Neuanfang, denn mehrere der seinerzeit in das Präsidium der Stein-Gesellschaft berufenen Persönlichkeiten haben ihr Amt mittlerweile niedergelegt. Das gilt für Prof. Dr. Janbernd Oebbecke, Dr. Thilo Sarrazin und Prof. Dr. Joachim Wieland. Allen ehemaligen Präsidiumsmitgliedern dankte Hoppenstedt für ihr Engagement und würdigte vor allem auch den im März 2018 verstorbenen Dr. Ulrich Schröder, der als Vorstandsvorsitzender der KfW Bankengruppe die Gesellschaft in vielfacher Hinsicht unterstützt und ihr als Schatzmeister gedient hat. Neu in das Präsidium gewählt hat die Mitgliederversammlung den Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI), Dr. Markus Kerber, den ehemaligen Leiter der Abteilung Staatsrecht, Ver­fassungsrecht und Verwaltungsrecht im BMI, MinDir a. D. Hans-Heinrich von Knobloch sowie den ehemaligen Präsidenten des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe und Vizepräsiden­ten des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Dr. Rolf Gerlach, der auch das Amt des Schatzmeisters übernommen hat. Berufen wurden ferner Prof. Dr. Alexander Schink, einst Staatssekretär im Ministerium für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucher­schutz des Landes Nordrhein-Westfalen und heute als Rechtsanwalt sowie Hochschullehrer tätig und Prof. Dr. Christian Waldhoff, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zur Aufnahme von zwei weiteren Präsidi­umsmitgliedern aus dem Bereich der Politik wurden der Präsident und der Vizepräsident ermächtigt.


Bericht über die umfangreichen Aktivitäten seit der letzten Mitgliederversammlung erstattete das Geschäftsführende Präsidialmitglieder der Gesellschaft, Dr. Georg Lunemann. Er konnte dabei auf drei Hauptstadtgespräche mit so prominenten Gästen wie dem ehemaligen Regie­renden Bürgermeister von Hamburg und Bundesminister a. D. Dr. Klaus von Dohnanyi, das Präsidiumsmitglied der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft Dr. Jasper von Altenbockum, Prof. Dr. Christan Waldhoff, die beiden Staatssekretäre Dr. Markus Kerber (BMI) und Dr. Hermann Onko Aeikens (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft) sowie Ina Scharren­bach, Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen und auf eine Sonderveranstaltung zum Thema „Gleichwertigkeit der Lebensverhält­nisse“ in Oldenburg verweisen, an der u.a. der Niedersächsische Finanzminister Reinhold Hilbers mitgewirkt hat. Auf gutem Weg sind auch die vor allem wissenschaftlich ausgerichteten Nassauer Gespräche, die Ende November 2019 zum dreizehnten Mal auf Gut Siggen in Part­nerschaft mit der Alfred-Toepfer-Stiftung ausgerichtet werden sowie der Nassauer Dialog, eine Veranstaltung in Kooperation mit der G. und I. Leifheit-Stiftung, die sich an junge Führungs­kräfte richtet und von einem Alumni-Netzwerk begleitet wird. Viele ehemalige Teilnehmer eines der bislang vier Nassauer Dialoge – der letzte vom 13. – 15.9.2019 wurde durch einen Abend­vortrag des sich seinerzeit noch im Amt befindlichen Vorsitzenden der Gewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, eröffnet – fanden sich ebenfalls im Haus der Geschichte ein und konnten an einem spezifischen Begleitprogramm teilnehmen.


Seinen Abschluss fand der ereignisreiche Tag am Abend in einer auch der Öffentlichkeit zugänglichen Diskussionsrunde bestehend aus dem Vizekanzler der Bundesrepublik Deutsch­land a. D., Franz Müntefering, dem Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts a. D., Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, sowie dem Vizepräsidenten der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft und Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistags, Prof. Dr. Hans-Günter Henneke. Alle drei Diskutanten waren in der 2003 eingesetzten Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung engagiert: Müntefering als wichtiger Initi­ator und Co-Vorsitzender, Henneke als Mitglied und Kirchhof als Sachverständiger. Es handelt sich also um Zeitzeugen der deutschen Verfassungsgeschichte, die sich der bewusst provo­kant formulierten Frage stellten, ob die Eckpfeiler des Bundesstaates 70 Jahre nach Inkraft­treten des Grundgesetzes morsch geworden sind. Eine Dokumentation dieser Veranstaltung wird hiermit vorgelegt.

 

Grußwort

 

Dr. Ruth Rosenberger

Leiterin Digitale Dienste
Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland


70 Jahre GG
Dr. Ruth Rosenberger

Bei Fragen des Föderalismus geht es immer um das Verhältnis von Bund und Ländern. Es geht um Gesetz­gebung und es geht um etwas ganz Grundsätzliches: das Grundgesetz. All diese Aspekte kumulieren an einem historischen Ort ganz besonders, und zwar in der ehemaligen Pädagogischen Akademie hier in Bonn, wo von 1949 bis ins Jahr 2000 der Bundesrat tagte und wo zuvor der Parlamentarische Rat das Grundgesetz so­weit ausgearbeitet hatte, dass Konrad Adenauer und eine Reihe anderer Akteure es am 23.5.1949 unter­zeichnen konnten. An diesem Ort, an dem sich bis heute eine Außenstelle des Bundesrats befindet, zeigen wir aktuell unsere Ausstellung zum Grundgesetz. In unmit­telbarer Nachbarschaft des Bundesratsgebäudes befin­det sich eine Vielzahl der ehemaligen Landes-vertretungen. Das ist interessant, weil die Geschichte der Bundesrepublik eigentlich schon vor 1949 in den Ländern beginnt. Dort haben die Besatzungsmächte ab 1946/47 Landtagswahlen zugelassen, die auch durchgeführt wur­den. Deshalb ist der Parlamentarische Rat eine Versammlung gewesen, die von den Lan­desparlamenten der Westzone gewählt war. Nicht zufällig siedeln sich unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik im Regierungsviertel der neuen Hauptstadt alle Länder mit eigenen Vertretungen an, von den einige zu wichtigen Orten des politischen Arbeitens und Lebens in Bonn werden. Zu diesen 16 Landes-vertretungen sowie zu mehr als 50 anderen Orten der Demokratie hier in Bonn finden Sie weitere Informationen auf unserer Webseite www.wegderdemokratie.de.  

 

Mit diesem Verweis auf unser digitales Projekt sind wir schon bei einer ganz aktuellen Debatte angekommen, die wiederum eng mit dem Föderalismus und seiner Reform verbunden ist: beim Digitalpakt, der dazu dienen soll, unsere Schulen fit für das digitale Zeitalter zu machen, was auch dringend nötig ist. Hier sind die Länder gefragt, es sind die Kommunen gefragt, es hat sich der Bund engagiert. Natürlich müssen bildungspolitisch handelnde Akteure auch mit den entsprechenden Finanzen ausgestattet sein. Und am besten gibt es dafür einen gesetz­lichen Rahmen, der unproblematisch jeweils die Voraussetzungen schafft, dass schnell alle handlungsfähig sind. Es scheint jedoch, dass dieser Rahmen derzeit nicht gegeben ist. Wie er jedoch aussehen könnte, dass beschreibt Prof. Dr. Henneke nicht nur in seiner aktuellen Pub­likation zur Föderalismusreform.Diese Frage ist vielmehr auch Gegenstand der folgenden Podiumsdiskussion. 

 



[1]Henneke, Aufgaben und Finanzbeziehungen von Bund, Ländern und Kommunen ab 2020. Die Reformen von 2017 und 2019 – Lehrstücke ohne Lehre? 2. Aufl. 2019.

 

Grußwort


Dr. Dietrich Hoppenstedt

Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft

 

70 Jahre GG
Präsident Dr. Dietrich H. Hoppenstedt

Es ist nicht von ungefähr, dass wir heute in Bonn und gerade hier tagen. Im Jahre 1949, also vor siebzig Jahren, wurde die Bundesrepublik Deutsch­land gegründet. Zum Regierungssitz wurde Bonn bestimmt. Es war nach bitteren Jahren ein morali­scher und demokratischer Neuanfang für Deutsch­land. Grundlage unseres rechtsstaatlichen Neu­beginns war das Grundgesetz für die Bundesrepub­lik Deutschland. Wenig später wurde die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft gegründet. Es fanden sich Männer und Frauen zusammen, die einen Beitrag zum sittlichen, rechtsstaatlichen und gesellschaft­lichen Verantwortungsbewusstsein leisten wollten. „Wir wollen helfen, um unser Volk nach beispiel­losem Niedergang wieder auf einen Weg zu führen, der seinen großen geistlichen und sitt­lichen Leistungen in der Geschichte entspricht“, sagte der erste Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Theo Keyser.


Heute versteht sich die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft als Anwalt des Föderalismus und der kommunalen Selbstverwaltung im demokratischen und sozialen Rechtsstaat. Angesichts einer sich verdichtenden europäischen Integration ist sie bestrebt, diese Prinzipien stets an zeit­gemäßen Formen demokratischer Teilhabe ausrichten zu helfen. Dazu veranstaltet die Gesellschaft Hauptstadtgespräche zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen von grundsätzlicher Bedeutung, wissenschaftliche Symposien in Gestalt der Nassauer Gespräche, und mit Nachwuchsführungskräften aus ganz Deutschland diskutiert sie gesell­schaftliche und wirtschaftliche Fragen im Nassauer Dialog. In diesen Rahmen fügt sich auch die heutige Diskussionsrunde an diesem historischen Ort zu ganz grundsätzlichen Fragen un­seres Verfassungsrechts ein.


Sind die Eckpfeiler des Bundesstaates morsch geworden? – so lautet das etwas provokante Motto der heutigen Veranstaltung. Damit ist vor allem das Grundgesetz mit seinem föderalen Regelwerk Thema der Diskussion.


Anlässe dazu gibt es genügend. Allein in den letzten zwei Jahren sind bislang 18 Artikel des Grundgesetzes geändert worden, und das ist vermutlich noch nicht das Ende. Von der Reform des Finanzausgleiches über die Autobahnverwaltung, die Schaffung der rechtlichen Grund­lagen für informationstechnische Systeme bis zur Bildungskooperation wurde immer dann das Grundgesetz geändert, wenn neue Finanzierungsbedarfe dies opportun erscheinen lassen. Die Länder wünschen sich immer wieder ein finanzielles Engagement des Bundes, jedenfalls eine Mitfinanzierung. Sie nehmen dabei Kompetenzverschiebungen und fachaufsichtliche Kontrolle unabhängig von politischer Couleur billigend in Kauf. Steht das biblische Linsen­gericht hier vielleicht gelegentlich Pate?


Grundsätze unseres föderalen Systems werden leichtfertig bei Seite gewischt. Eine Grund­satzdebatte über Verantwortlichkeiten der verschiedenen staatlichen Ebenen findet wenig statt. Führt dies zu unklaren Kompetenzen oder zu Trennung von Zuständigkeit und Verant­wortlichkeit und hat dieser vielleicht leichtfertige Umgang mit unserer Verfassung evtl. auch Folgen für das Ansehen unseres Rechtsstaates? Verliert das Grundgesetz als sicht- und fühl­bare Bastion in einer Zeit und einer Welt, in der vieles in Bewegung ist und vieles ins Wanken gerät, wo die Suche nach Identität unser politisches System derzeitig verändert, an Bedeu­tung? Damit sind die Fragen umrissen, mit denen sich das heutige Podium befassen wird.

 

Podiumsdiskussion

 

Franz Müntefering
Vizekanzler a. D.
 

Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof
Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a. D.
 

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke
Geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Deutschen Landkreistages
Vizepräsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft

 

Henneke: Was uns auf dem Podium eint, ist vor allem, dass wir ein gutes Jahr unter der Leitung von Herrn Müntefering in der Föderalismuskommission I zugebracht haben, die mor­gen vor 16 Jahren das erste Mal getagt hat, und zwar im Bundesrat, allerdings in Berlin und nicht in Bonn. Die Wahl dieses Tagungsortes war eine bewusste Entscheidung. Trotzdem: Nach einem Jahr blieb nur festzustellen, dass es keine Einigung gab, auch wenn die weitere Entwicklung zeigte, dass es am Ende dann doch ein Ergebnis gegeben hat. Wir wollen heute aber nicht zu lange in die Geschichte zurückblicken, sondern uns insbesondere auch mit tagesaktuellen Fragen beschäftigen. Wir erinnern zuvörderst daran, dass das Grundgesetz nicht mit dem Föderalismus, sondern mit der Würde des Menschen beginnt. Deshalb ist es richtig, dass wir die Frage ins Zentrum stellen wollen, wer was für wen im Staat tun muss, damit für die Menschen insgesamt das Beste herauskommt. Die Frage lautet also: Wie ist dieses Ziel, über das wir uns alle einig sind, zu erreichen? Es geht deshalb auch um den Weg, und insoweit werden sich sicher unterschiedliche Ansätze zeigen. Daher auch die Überschrift unserer heutigen Veranstaltung, mit der wir vor allem klären wollen, ob die – und das ist zu betonen – Struktur des Bundesstaates ein Stück weit morsch geworden und damit keine sichere Grundlage mehr ist für die Erfüllung der Aufgaben, die vor uns liegen.


Frau Rosenberger hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Länder vor dem Bund entstan­den sind und die 65 Mitglieder des Parlamentarischen Rates wählten, die das in Bonn verkün­dete Grundgesetz in der unmittelbaren Nachbarschaft unseres Tagungsortes ausgearbeitet haben. Im Grundgesetz sind seinerzeit in den Art. 30, 70, 83, 92 GG Grundregelungen nieder­gelegt worden, die im Kern sowohl für die Gesetzgebung wie für die Verwaltung und Recht­sprechung sagen: Wenn nichts im Grundgesetz steht, sind die Länder zuständig. Man ist da­mals also ganz klar von einem Vorrang der Länder ausgegangen.


Allerdings hat es im Laufe der Jahre eine ganze Reihe von Verschiebungen insbesondere zu Gunsten des Bundes gegeben. Das Grundgesetz ist in Anpassung an Zeitnotwendigkeiten vor allem im Bereich der Gesetzgebungskompetenzen reichlich geändert worden. Im Jahre 1969 hat es dann eine ganz deutliche Zäsur in Gestalt der großen Finanzreform gegeben, mit der die Verteilung der Steuermittel neu geregelt und vor allem die sog. Gemeinschaftsaufgaben geschaffen wurden. Eingeführt wurden Gemeinschaftsaufgaben für Hochschulbau und Hoch­schulkliniken, für regionale Wirtschaftsförderung sowie für Agrarstruktur und Küstenschutz. Seinerzeit sah das Grundgesetz noch in zahlreichen Fällen für Gesetze des Bundes ein Zustimmungserfordernis des Bundesrates vor. Das galt nach Art. 84 GG a. F. insbesondere bei Organisations- und Verfahrensregelungen. Der Bundesrat ist dadurch vor allem in der Zeit der sozialliberalen Bundesregierung zu einem Organ geworden, das auch Parteipolitik in dem Sinne betrieben hat, dass unionsgeführte Länder im Bundesrat die Mehrheit hatten und dadurch eine besondere Form der Zusammenarbeit, insbesondere während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt entstanden ist. Diese Form der Zusammenarbeit hat sich dann noch zwei Mal massiv ausgewirkt in der Geschichte Deutschlands und hat wohl auch Kanzlerwechsel mit herbeigeführt. 1998, Franz Müntefering war Bundesgeschäftsführer der SPD, gab sein dama­liger Parteivorsitzender Oskar Lafontaine, zugleich Ministerpräsident im Saarland, die Parole aus: Wir blockieren Gesetze im Bundestag. Dann hat Jürgen Rüttgers 2005 die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gewonnen, was dazu führte, dass es im Bundesrat eine erdrückende schwarz-gelbe Mehrheit bei einer seinerzeit rot-grün geführten Bundesregierung gab. Sie, Herr Müntefering, haben vor diesem Hintergrund gemeinsam mit Bundeskanzler Gerhard Schröder noch am Wahlabend angekündigt, den Bundestag auflösen und Neuwahlen durchführen zu wollen, was dann auch geschah und zur Kanzlerschaft von Angela Merkel geführt hat.

 70 Jahre GG Vizekanzler a.D. Franz Müntefering

 

Insofern hat der Bundesrat mit seiner Kompetenzsituation in der Geschichte der Bundes­republik schon eine wichtige Rolle gespielt. Herr Müntefering, sehen Sie es auch so? War das nicht ein entscheidender Punkt für Sie, durch die Föderalismusreform einerseits die Verant­wortung des Bundes zu stärken, der in die Lage versetzt werden sollte, bestimmte Fragen allein und unabhängig von der Zustimmung der Länder zu regeln, und andererseits aber auch die Kompetenzen der Länder zu stärken? Oder beurteilen Sie das aus Ihrer heutigen Erfah­rung anders?


Müntefering: Lassen Sie mich vorweg mit Blick auf den Einladungstext zur heutigen Veranstal­tung betonen, dass ich die dort gestellte Frage, ob die Eckpfeiler des Bundesstaats morsch geworden sind, als etwas alarmistisch empfinde. Richtig ist, dass das Verhältnis von Bund und Ländern zueinander sehr deutlich auch von der deutschen Wiedervereinigung beeinflusst wor­den ist. In den spannenden Jahren damals stellte sich natürlich die Frage, wie die Integration der neuen Länder in das existierende bundesstaatliche Gefüge gelingen könnte. Dass 1949 das Grundgesetz den Ländern einen Vorrang u. a. bei den Gesetzgebungszuständigkeiten eingeräumt hat, weil der Bund nur dann zur Gesetzgebung zuständig ist, wenn die Verfassung ihm eine solche Kompetenz ausdrücklich zuordnet, diskutieren wir heute vor allem unter föde­ralen Gesichtspunkten. Seinerzeit lag dieser Zuständigkeitsordnung dagegen vor allem eine geostrategische Entscheidung der West-Alliierten zugrunde. Die Siegermächte wollten, dass die Bundesrepublik Deutschland ein starkes, attraktives Land wird. Der Kommunismus stand mitten in Deutschland, und es war wohl Winston Churchill, der sich als erster dafür ausge­sprochen hat, dessen weitere Ausbreitung durch die Errichtung eines leistungsfähigen Staates zu verhindern. Deshalb gab es nicht den Morgenthau-, sondern den Marshall-Plan. Die West-Alliierten haben uns seinerzeit viel Geld zur Verfügung gestellt und uns zugleich in hohem Maße aufgegeben, wie unsere Demokratie auszusehen habe. Der Bund hat dann im Verlauf der nächsten Jahre deutlich an Macht gewonnen und der jungen Generation heute ist kaum noch bewusst, dass es ursprünglich die Länder waren, die einen Bund bilden durften.


Seit der Wiedervereinigung ist Deutschland auch souverän, da die Alliierten auf ihre Rechte verzichtet haben. Wir müssen daher heute sehen, wie wir die Kommunen und Länder in rich­tiger Weise an unserer Demokratie beteiligen. Deshalb müssen wir heute Abend ganz sicher darüber sprechen, ob die Kommunen ausreichend Macht haben und ob der Gedanke der Sub­sidiarität – der Aufbau von oben nach unten – eigentlich funktioniert. Es geht also nicht mehr darum, welche Vorstellung die West-Alliierten seinerzeit verfolgten, sondern darum, welche verfassungsrechtliche Ordnung für uns heute optimal ist.


Nun zu Ihrer Frage. Ja, es trifft zu, uns ist die Macht des Bundesrates seinerzeit bewusst geworden. Mittlerweile gibt es deutlich mehr Parteien, die Parteienlandschaft ist bunter, was sich auch im Bundesrat widerspiegelt. Da in den Ländern Regierungskoalitionen in sehr unterschiedlicher Zusammensetzung existieren, fühlt sich eigentlich immer ein Land aufgeru­fen, Opposition zu sein. Das, was Lafontaine in der Zeit von Kohl gemacht hat, wurde dann in den Jahren ab 1999 unter der Kanzlerschaft von Schröder extrem fortgeführt, weil die SPD Anfang 1999 die Wahlen in Hessen – und damit die Mehrheit im Bundesrat – verloren hat. Wenn Sie sich die Protokolle ansehen, werden Sie feststellen, dass zu keiner Zeit zuvor der Bundesrat mehr Entscheidungen des Bundestages seine Zustimmung verweigert hat als damals. Das entscheidende Gremium damals war daher der Vermittlungsausschuss. All das, was normalerweise im Kabinett zu behandeln war, wurde morgens zwischen drei und vier Uhr im Zustand von Erschöpfung, Begeisterung und Resignation beschlossen, weil die Dinge ja irgendwie durchgeboxt werden mussten. Dies entsprach nicht dem Sinn der Verfassungsväter und -mütter, und deshalb musste man sich damit auseinandersetzen.


Ja, es stimmt, der Bundesrat hat eine große Mitverantwortung für das, was geschieht. Er kann und muss sich einmischen. Und das tut er ja auch. Um dies an einem ganz konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Der Bundestag hat 1994/1995 – Norbert Blüm war Bundesminister, ich war zuständiger Minister in Nordrhein-Westfalen – im Rahmen der Pflegeversicherung beschlos­sen, dass es in allen Orten Pflegestützpunkte geben soll. Der Bundesrat hat eingewendet, über die Einrichtung von Pflegestützpunkten könnten nur die Länder entscheiden. Deshalb wurde das Gesetz geändert. Das führt nun dazu, dass es in Rheinland-Pfalz ganz viele und in manchen anderen Bundesländern sehr wenige Pflegestützpunkte gibt. Folge sind also unter­schiedliche exekutive Entwicklungen in den Ländern. Das deutet hin auf eine große Schwäche in unserer Demokratie: Wenn ein Gesetz im Bundestag beschlossen wird, steht in den Zeitun­gen, dass das Problem gelöst sei, weil die Legislative entschieden habe. Dabei steht auf einem ganz anderen Blatt, wie dieses Gesetz dann vom Bund bzw. den Ländern und Kommunen vollzogen wird. Wir müssen uns daher überlegen, in welcher Weise wir die Handlungsfähigkeit der Kommunen im Sinne der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in allen Landesteilen sichern, wie es auch Anliegen der von der Bundesregierung berufenen Gleichwertigkeits­kommission ist. Das, was Sie, Herr Henneke, dem Bundesrat ein wenig anlasten, trifft in der Sache also zu, ist allerdings auch legitim und wird in den nächsten Jahren noch zunehmen, wenn das mit der Vielzahl der Parteien so bleibt wie heute.


Henneke: Vielen Dank, Herr Müntefering, wir merken, wo die Konfliktlinien heute Abend ver­laufen könnten. Ich will die Diskussion nicht zu sehr auf den Bundesrat fokussieren, aber doch eine Frage noch einmal behandeln: Meine These ist, dass 2003 der damalige SPD-Fraktions­vorsitzende Franz Müntefering in eine Föderalismusreform, die auf Beamtenebene bereits vor­bereitet war, mit der Forderung nach einer Kommission hineingegrätscht ist. Es hatte doch einen konkreten machtpolitischen Hintergrund, wenn seinerzeit gesagt wurde, wir müssen zu einer Entflechtung kommen und neue Spielregeln kreieren. Prof. Kirchhof, Sie waren damals vom großen Föderalisten Erwin Teufel als Sachverständiger für die Kommission vorgeschla­gen worden. War es nicht gerade der Sinn dieser Veranstaltung unter der Leitung von Münte­fering und Stoiber zu sagen, wir kommen zu einer Entflechtung von Verantwortlichkeiten, damit wir dieses nächtliche Theater mit Henning Scherf als Vorsitzendem des Vermittlungs­ausschusses nun nicht mehr bei jedem Gesetz spielen müssen?

 

Kirchhof: Ausgangspunkt der damaligen Überlegungen war sicher die Erkenntnis, dass der Bundesrat sich von einem Organ, das die Länderinteressen bei der Bundesgesetzgebung, aber auch der Bundesverwaltung vertreten sollte, entwickelt hat zu einer Art „Bundesopposi­tion“. Das wollte man beseitigen, und ich finde, dass das auch das richtige Ziel war, weil der Bundesrat auf diese Weise etwas denaturiert worden war. Wird der Bundesrat als Bundes­opposition verstanden, dann sind es im Grunde die Ministerpräsidenten, die diese Bundes­opposition ausmachen. Daraus ergibt sich eine seltsame Schieflage: Wir haben dann den Bun­destag als urdemokratisches Verfassungsorgan und wir haben den Bundesrat – weil die Bun­desländer ja einheitlich abstimmen müssen – sozusagen als Versammlung der Ministerpräsi­denten, d. h. als Repräsentanz der Exekutive. Es ging also um zweierlei: Einerseits sollte der Bundesrat wieder als Organ der Länder revitalisiert werden; andrerseits sollte vermieden wer­den, dass die Exekutive einen zu großen Einfluss auf die Bundesgesetzgebung gewinnt.

Zweitens: Herr Müntefering, ich habe Sie so verstanden, dass Sie meinen, wir müssten nun auch im Bereich der Exekutive dafür sorgen, dass die Lebensverhältnisse gleichwertig sind. Das ist problematisch. Wenn man sich noch einmal die verfassungsrechtliche Entwicklung vor Augen führt, so hat der Bund insbesondere und weitgehend die Gesetzgebungskompetenzen – auch hinsichtlich der Steuerquellen – für sich in Anspruch genommen, während die Länder im Sinne eines Exekutivföderalismus vor allem für den Verwaltungsvollzug zuständig sind. Die Verwaltung ist mithin das eigentliche Residuum der Länder. Wenn wir – und mag es aus gut gemeinten Motiven sein – auch insoweit den Einfluss des Bundes verstärkten, würden wir uns immer mehr einer zentralen Verwaltung nähern, wo die Bundesländer nur noch Departements sind. Ich glaube nicht, dass diese Richtung förderlich wäre für den Bundesstaat, für die Gewaltenteilung, für die Freiheit und wahrscheinlich auch nicht für die Demokratie.

 

 70 Jahre GG Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.

 

Und noch ein dritter Gesichtspunkt: Herr Müntefering, Sie haben zu Recht auf die Gemeinden verwiesen. Ich teile Ihre Auffassung, dass es sich bei den Kommunen um die Graswurzel-Form der Demokratie handelt. Das sehen wir im Alltagsleben viel zu wenig. Denn im Grunde haben wir ja ein Vierebenensystem. Die Spitze bildet die Europäische Union, die momentan einen viel größeren Zentralisierungseffekt gegenüber den Ländern hat als der Bund. Dass das Grundgesetz, weil es territorial verfasst ist und nur an das deutsche Staatsgebiet denkt, diese Entwicklung noch nicht einbezogen hat, ist richtig. Aber bei einer ganz nüchternen Analyse der Fragen, wie sich das Thema Zentralisierung, die wir eigentlich vermeiden wollen, ent­wickelt, und wie es weitergeht mit unserer Bundesstaatlichkeit, die geprägt ist von dem Eigen­leben autonomer Teilstaaten und in begrenztem Umfang auch von der Eigenständigkeit be­stimmter Verwaltungseinheiten, nämlich der Gemeinden und Landkreise, da müssen wir sehen, dass die Europäische Union als vierte Ebene eine ganz wichtige Rolle spielt und na­türlich ganz stark zentralisierende Effekte hat. Dabei geht es um eine Zentralisierung, die auf eine genuin deutsche Mentalität bzw. auf deutsche Überlegungen oder Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt. Die Europäische Union sieht jeden Mitgliedstaat als ein Rechtssubjekt. Wie die interne Gliederung der Mitgliedstaaten ist, spielt aus europäischer Sicht weitgehend keine Rolle. Ich würde daher meinen Blick auch sehr auf diese Entwicklungen richten.


Henneke: Damit ist der Rahmen unserer heutigen Diskussion gut umrissen. Um Sie weiter zu beflügeln, möchte ich noch einmal zuspitzen: Wolfgang Schäuble hat kürzlich in seiner Funk­tion als Bundestagspräsident gesagt „Jeder redet überall mit und keiner ist für irgendwas ver­antwortlich.“ Herr Hoppenstedt hat gerade betont, die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft ist An­walt des Föderalismus, also muss auch ich versuchen, diese Rolle wahrzunehmen. Daher nochmal die Frage, was die Kommission eigentlich wollte und was dann – nachdem sie formal am Bildungsthema gescheitert war – mit Bildung der Großen Koalition 2005 wortgetreu um­gesetzt wurde. Denn die Ergebnisse des Stoiber-Müntefering-Papiers wurden ja als Anlage wörtlich zum Inhalt des Koalitionsvertrags gemacht. Dort war doch festgehalten: Wir verringern – erstens – die Rolle dessen, was gerade als „Bundesratsopposition“ bezeichnet wurde. Bis dahin sah die Verfassung ja einen Zustimmungsvorbehalt des Bundesrates zu solchen Ge­setzen vor, mit denen der Bund auch Fragen des Verwaltungsverfahrens oder der Verwal­tungsorganisation regelte. Diese Bestimmung wurde abgeschafft, weil davon nahezu alle Gesetzgebungsvorhaben betroffen waren. Jetzt darf der Bund regeln und die Länder dürfen davon abweichen. Der Bundesrat muss also nicht mehr zustimmen, aber die Länder haben das Recht, das eigene Verwaltungsverfahren und die eigene Verwaltungsorganisation auch im Bereich des Vollzugs von Bundesrecht eigenverantwortlicher zu bestimmen. Stattdessen gibt es jetzt einen neuen Zustimmungsvorbehalt bei finanzwirksamen Bundesgesetzen, das sog. „Pralinen-Schachtel-Modell“ von Ferdinand Kirchhof. Zweitens wurden Gesetzgebungs­kompetenzen auf die Länder verlagert – zunächst in durchaus weitreichendem Umfang vorge­sehen, am Ende dann vielfach nur noch sehr kleinteilig. So sollten die Länder bspw. ursprüng­lich die Kompetenz für das Jagdrecht erhalten, tatsächlich übertragen hat man ihnen dann nur das Jagdrecht, ohne das Recht der Erteilung der Jagdscheine. Auch das Gaststättenrecht wurde zur Regelungsmaterie der Länder, was schon kurz danach aus Anlass der Diskussion um den Nichtraucherschutz zu Forderungen nach bundeseinheitlicher Regelung führte. Inso­weit ging es darum, den Bundesrat als Organ zu schwächen, aber gleichzeitig die Kompeten­zen der Länderparlamente zu stärken mit der Folge, dass das Recht in den Ländern unter­schiedlich sein kann. Drittens schließlich wurde im Hochschulbereich die Gemeinschaftsauf­gabe komplett abgeschafft; gleiches gilt für die Rahmengesetzgebung. Im Grunde gab es also drei Kernelemente, für die man gesagt hat, es liegt im Interesse der Menschen, wenn nicht alles vermengt und sozusagen „vermittlungsausschussfähig“ wird, sondern wenn wir klarer regeln, was der Bund bzw. die Länder gesetzgeberisch verantworten und dass der Bund, wenn er Gesetze erlässt, keine letztgültigen Vorgaben für den Vollzug dieser Gesetze machen kann. Trifft diese Sichtweise zu oder haben Sie das Ergebnis ihrer Kommission in anderer Erinne­rung, Herr Müntefering?


Müntefering: Nein, Ihre Beschreibung trifft zu. Ich will aber noch ergänzend sagen, dass es seinerzeit nicht nur um den Exekutiv-, sondern auch um den Wettbewerbsföderalismus ging. Die Länder haben eigenstaatliche Interessen und – Nordrhein-Westfalen ist ja im Grunde das viert- oder fünftgrößte Land in Europa – eine recht konkrete Vorstellung von der eigenen Be­deutsamkeit, was sich bspw. auch in der Existenz eigener, sehr repräsentativer Landesvertre­tungen in Brüssel zeigt. Das ist durchaus legitim. Wichtig ist mir aber auch: Es kommt letztlich darauf an, dass wir in einem Land leben, in dem die Menschen in zentralen Bereichen die Chance auf zwar nicht dieselben, aber auf gleichwertige Lebensbedingungen haben. Deshalb hat die Regierung ja auch die Gleichwertigkeitskommission eingesetzt. Denn es gibt ein Gefälle zwischen dem Osten und dem Westen, zwischen Stadt und Land, aber auch innerhalb der Städte. Sie wissen, wie kompliziert die Situation insoweit ist.


Heute müssen wir uns daher darüber Gedanken machen, wie mit dieser aktuellen Lage um­zugehen ist. Ich halte es daher für verschüttete Milch, noch einmal darüber zu reden, wie es vor 15 Jahren gewesen ist. Was wir damals gemacht haben, war der Versuch, Zuständigkeiten neu zu ordnen. Davon ist einiges gelungen, anderes eher nicht. Jetzt müssen wir uns – das ist wichtig für die Stimmung und die Demokratie im Land – darüber verständigen: Wie ist die Lage aktuell und wie soll es weitergehen. Ich glaube, dass sich der Zuschnitt der Länder nicht verändern wird. Die Zusammenlegung von Berlin und Brandenburg ist ja gescheitert. Und es gibt weitere Landesgrenzen, die wenig Sinn machen, wenn Sie sich etwa Hamburg, Nieder­sachsen und Bremen ansehen. Das ist aber nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, dass die Menschen unabhängig davon, wo sie in Deutschland wohnen, die gleichen Lebens­chancen haben. Wir müssen darauf reagieren, dass es in einigen Städten eine Überdynami­sierung gibt, während die Entwicklung in anderen Städten sowie bestimmten ländlichen Räu­men deutlich ungünstiger verläuft.


Ich nähere mich diesen Fragen nicht aus der Perspektive des Grundgesetzes, sondern als jemand, der sich für Demografie interessiert. Als wir mit Gerhard Schröder 1998 begonnen haben zu regieren, habe ich dazu beigetragen, dass er einen Rat für nachhaltige Entwicklung unter den beiden Vorsitzenden Hauff und Töpfer eingesetzt hat. Wir wussten genau, dass es notwendig ist, eine Politik über mehrere Jahre, über eine längere Strecke, zu machen. Ich habe auch dazu beigetragen, dass der Deutsche Bundestag einen Unterausschuss für nach­haltige Entwicklung hat. Beide Institutionen spielen heute nach meiner Wahrnehmung keine große Rolle mehr. Das ändert aber nichts daran, dass wir nachhaltige Entwicklungen haben, die über die Dauer einer Legislaturperiode hinausreichen. Die Schwäche der heutigen Politik ist, dass Koalitionsverträge nur für vier Jahre gemacht werden, obwohl sie für zehn oder zwan­zig Jahre gemacht werden müssten. Alle hoffen aber auf ein besseres Ergebnis bei der nächs­ten Wahl und schauen daher nur auf die jeweilige Legislaturperiode. Die langfristigen Prob­leme werden nicht gelöst. Und ein Teil der Probleme, die wir heute in Deutschland – im Osten, aber nicht nur dort – haben, hängt damit zusammen. Das wird noch zunehmen, zumal die Binnenwanderung, die wir beobachten können, in ihrem Umfang das Ausmaß der Einwande­rung deutlich übertrifft. Mehr als eine Millionen Menschen pro Jahr ziehen innerhalb Deutsch­lands um. Wir kennen die Motive nicht genau, sehen aber, dass einige Städte davon profitie­ren, während andere Kommunen unter Abwanderung leiden. Wenn wir dies so weiterlaufen lassen, werden sich die Probleme noch vergrößern. Wir haben in Deutschland aktuell eine große Diskussion über Wohnungsbau, haben aber gleichzeitig fast drei Millionen leerstehende Wohnungen, leider an Orten, in die die Menschen nicht ziehen wollen oder können. Wie gehen wir damit um? Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden und in diesem Zusammenhang liegt das Stichwort „Gemeinschaftsaufgabe“ sehr nahe.


Kirchhof: Herr Müntefering, Sie sprachen von Gleichwertigkeit, die im Grundgesetz nur an einer Stelle im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren erwähnt ist, und verwiesen dann auf gleichwertige Lebenschancen. Insoweit besteht allerdings ein grundlegender Unter­schied. Wenn Sie gleichwertige Lebensverhältnisse sagen – was ja schon eine sehr dezente Aussage ist, die gerade nicht auf Gleichheit zielt – und dies auf ganz Deutschland beziehen wollen, dann beschädigen sie den Kern des Bundesstaates. Der Bundesstaat impliziert doch das Anderssein seiner autonomen Teilstaaten. Ich komme aus Baden-Württemberg. Dort spielt die Universitätsfrage eine zentrale Rolle und verschlingt auch einen großen Teil des Haushaltes. Anderswo steht vielleicht die Wirtschafts- und Technologieförderung oder etwa auch die Landwirtschaft stärker im Fokus. Wenn wir einen Bundesstaat wollen, entscheiden wir uns für differente Lebensverhältnisse, was natürlich nicht heißen darf, dass etwa die Ein­wohner des einen Teilstaates am Existenzminimum sind, während die Einwohner eines ande­ren Teilstaates reich werden, um dies einmal klischeehaft auszudrücken. Um die Verhinderung solch gravierender Unterschiede geht es, wenn von gleichwertigen Lebensverhältnissen die Rede ist.


Bei den von Ihnen auch erwähnten gleichen Lebenschancen für die Einzelnen geht es dage­gen um etwas Anderes. Das ist eine Frage des Gleichheitssatzes in Art. 3 GG, aus dem in Verbindung mit Art. 12 GG bspw. ein Recht auf gleiche Chancen beim Zugang zu einem Aus­bildungsplatz folgt, also die Numerus Clausus-Problematik. In solchen Fällen ist die Gleichheit gefragt, aber eben immer bezogen auf ein Individuum. Dagegen ist das Prinzip der Gleichwer­tigkeit sicher kein Vehikel, um Unterschiede, die ja demokratisch-politisch gewollt sind, die von den Wählern in den Ländern verantwortet werden, zu nivellieren. Ich glaube, wir machen einen Fehler, wenn wir diesen Gedanken der Gleichwertigkeit zum tragenden Prinzip erklären, ob­wohl er im Grundgesetz nur an einer Stelle auftaucht. Ich verstehe Ihr Bedürfnis, dass jemand gleiche Lebenschancen haben muss, nicht nur mit Blick auf die Ausbildung, sondern natürlich auch bezüglich etwa der medizinischen Versorgung. Insoweit handelt es sich allerdings um ein Grundrechtsproblem, das anderen Regeln gehorcht. Dagegen dürfen wir nicht die Demo­kratie in den Ländern und das Recht, autonom, d.h. verschieden zu sein, unter Berufung auf das Gleichwertigkeitspostulat überrennen.


Müntefering: Wir haben nach der deutschen Einheit das Grundgesetz an dieser Stelle geän­dert. Dort stand früher „einheitliche“ Lebensverhältnisse. Daraus haben wir – wohlwissend, dass es Unterschiede gibt – „Gleichwertigkeit“ gemacht. Und ich lege Wert darauf, dass auch ich nur Gleichwertigkeit will. Im Sauerland wird es keine U-Bahn geben, dafür gibt es dort viele Wälder und Seen, die anderswo fehlen. Manche Menschen möchten lieber in einer Großstadt leben, manche möchten lieber in einem Dorf wohnen. Insoweit stellt sich die Frage der Gleich­wertigkeit von vornherein nicht.


Es gibt aber Situationen bei uns im Land, bei denen die Gleichwertigkeit – und zwar auch bezogen auf die einzelne Person – nicht mehr gegeben ist. Das zeigt sich etwa am Beispiel SAPV, der spezialisierten, ambulanten Palliativversorgung. Dazu gibt es ein Gesetz, das im Kern besagt, dass Menschen, die unter sehr starken Schmerzen leiden, Anspruch auf entspre­chende Pflege haben. Die Chance, SAPV zu erhalten, hängt in Deutschland allerdings in ho­hem Maße davon ab, wo sie wohnen. Insoweit handelt es sich um ein Problem der Gleichwer­tigkeit, bei dem ich Ihr Postulat von den differenten Lebensverhältnissen nicht akzeptieren kann. Nein, um solche Sachen muss man sich kümmern und man muss dafür sorgen, dass gleichwertige Lebenschancen gegeben sind, angefangen beim Zugang zu Kita-Plätzen. Dies kann man letztlich nur garantieren, wenn die Kommunen so gestärkt werden, dass sie in der Lage sind, die Gleichwertigkeit auf ihrem Gebiet zu gewährleisten. Deshalb glaube ich, dass wir uns nicht mit dem bloßen Wettbewerbsföderalismus der Länder zufriedengeben dürfen, sondern wir müssen für die Menschen in den Städten und Dörfern gleichwertige Lebensver­hältnisse durchsetzen.


Kirchhof: Aber wie weit soll das denn gehen? Natürlich: Der Staat ist für den Menschen da, soll seine Versorgung sicherstellen und ihm gute Chancen bieten. Das ist so selbstverständ­lich, darüber müssen wir uns nicht streiten. Aber was bedeutet dies konkret? Sie haben das Beispiel mit der Palliativversorgung gebildet. Das geht an die Existenz des Menschen und gehört für mich in die Sphäre von Art. 3 GG, mit seinen Gleichheits-, und nicht nur Gleichwer­tigkeitsansprüchen. Aber Sie ziehen dieses Gleichwertigkeitspostulat als Strukturmerkmal durch. Wie sieht es bspw. aus, wenn sich das eine Land für ein Schulsystem entscheidet, in dem schon sehr früh eine zweite Fremdsprache gelehrt wird, und ein anderes Land darauf verzichtet? Völlig klar: In einem solchen Fall gibt es für die Schüler unterschiedliche Bedingun­gen. Es würde sich also um unterschiedliche Chancen handeln, allerdings wäre dieser Unter­schied demokratisch legitimiert, so dass das Gleichwertigkeitsdogma insoweit nicht zieht. Sie müssen deshalb erklären, was bei Ihnen Gleichwertigkeit heißt und wo diese endet. Sie brin­gen immer Beispiele wie die Palliativversorgung, bei denen es keine Zweifel gibt, dass ein bestimmtes Leistungsniveau erreicht sein muss; dasselbe gilt für die medizinische oder die Notfallversorgung. Sie verstehen Gleichwertigkeit aber offenbar weiter und überziehen damit die Bundesstaatlichkeit in einer Weise, dass die Autonomie leidet. Darin liegt mein Problem.

 

 70 Jahre GG  Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, Vizepräsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft

 

Henneke: Ich glaube, wir meinen von der Zielsetzung her dasselbe und sollten uns daher nicht an Begrifflichkeiten festfressen. Die Stein-Gesellschaft hat folgendes Verständnis: Selbstver­ständlich, der Staat ist für die Menschen da. Darüber hinaus folgt für uns aus dem Grundgesetz der Subsidiaritätsgrundsatz – auf den Sie, Herr Müntefering, sich ja auch bezogen haben, – der im Kern besagt, dass die unmittelbaren Fragen des Lebens auf derjenigen Ebene ent­schieden werden sollten, auf der die insoweit besten Kenntnisse vorhanden sind, also insbe­sondere vor Ort. Dafür benötigt man keinen Bundesgesetzgeber, der den Kommunen sagt, wie sie ihre Kindergärten zu organisieren haben. Natürlich muss die Kinderbetreuung finanziert werden und deshalb gehört zur Selbstverwaltung auch, dass die Kommunen darüber befinden sollen, ob sie die Eltern an den Kosten beteiligen wollen, wenn sie dafür eine gute Gegenleis­tung erbringen. Das sind Entscheidungen, die vor Ort getroffen werden müssen. Deshalb ha­ben wir uns in der Föderalismusreformkommission ja auch zur Abschaffung des sozialen Woh­nungsbaus als Bundesaufgabe entschlossen, denn die Verhältnisse vor Ort sind schlicht zu unterschiedlich, und nur vor Ort kann festgestellt werden, welche konkreten Bedarfe bestehen.


Mittlerweile finanziert der Bund diese Aufgabe wieder, und der Bundestagsabgeordnete Reh­berg, der auch schon bei einer unserer Veranstaltungen zu Gast war, kritisiert bei jeder Gele­genheit die Länder, weil sie die Mittel nicht für den sozialen Wohnungsbau verwenden. Aber: Wenn in Sachsen-Anhalt 300.000 Wohnungen leer stehen, müssen dort keine neuen Sozial­wohnungen gebaut werden, und das kann man dem Land dann auch nicht vorhalten. Trotzdem löst dies dann immer wieder die Diskussion aus, ob der Bund sich nicht stärker engagieren müsse. Die eigentliche Frage lautet daher: Schließen sich die Prinzipien des Bundesstaates und der Selbstverwaltung, die für unterschiedliche Ansätze im Bereich der Länder und Kom­munen streiten, und die Gleichwertigkeit aus oder sind Bundesstaatlichkeit und Selbstverwal­tung nicht gerade Instrumente zur Verwirklichung von Gleichwertigkeit? Auch ich bin Mitglied der Gleichwertigkeitskommission und trete für Gleichwertigkeit, wie wir sie hier definieren, ein. Die Frage ist nur, bedeutet dieser Gleichwertigkeitsbegriff automatisch, dass einer ein Problem für alle regeln muss und damit die Problematik entsteht, dass eine einheitliche Ausführung einer solchen allgemeingültigen Regel aufgrund der realen Unterschiede vor Ort nicht möglich ist?


Ich will einen Gedanken hinzufügen, der das Hauptergebnis unseres letzten Hauptstadt­gesprächs war. Staatssekretär Kerber hat seinerzeit gesagt, was ich für richtig halte: Wir ha­ben – jedenfalls in Westdeutschland – in den dreißig Jahren seit der Wiedervereinigung ver­gessen, was wir in den fünfziger und sechziger Jahren noch wussten, nämlich, dass wir auch staatliche Strukturpolitik machen müssen. Strukturpolitik heißt: Wo der Markt die Dinge nicht regelt, muss der Staat ggf. eingreifen. Das gilt bspw. mit Blick auf die Mobilfunkversorgung in Räumen, in denen die geringe Bevölkerungsdichte den eigenwirtschaftlichen Bau entspre­chender Netze nicht zulässt. Deshalb ist es richtig, wenn der Bund insoweit Fördermittel zur Verfügung stellt. Für andere Aufgaben kommt ein solches Bundesengagement dagegen nicht in Betracht. Die Frage ist also: Führen nur zentrale Vorgaben bzw. vereinheitlichte Ausfüh­rungsbestimmungen zu vergleichbaren Ergebnissen oder können die Dinge nicht ohne ge­setzliche Vorgaben, aber mit spezifischen Kenntnissen vor Ort besser geregelt werden?


Müntefering: Sie argumentieren jetzt so, als ob ich das Problem erfunden hätte. Ich will noch einmal daran erinnern, dass die Koalition beschlossen hat, eine Kommission unter Führung der Minister Seehofer, Klöckner und Giffey einzusetzen, die eine Vorlage zur Lösung der Gleichwertigkeitsfragen erarbeiten soll. Meine Hoffnung ist, dass sich diese Kommission nun zu den beschriebenen Herausforderungen äußert. Wir müssen klar sehen: Was derzeit in einigen Ländern politisch geschieht, hängt ganz eng mit diesen negativen Entwicklungen, mit diesem Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse zusammen. In 20 Jahren werden sich die Dinge aufgrund des demografischen Wandels und der Binnenwanderung noch einmal drama­tischer darstellen. In vielen Regionen Deutschlands wird es an jungen Menschen fehlen. Das ist ein Problem, über dessen Lösung man sich Gedanken machen muss.


Und wenn das Grundgesetz verlangt, dass insoweit jedes Land seinen eigenen Weg gehen soll, ist dem entgegen zu halten, dass jeder Einzelne seine Lebenschancen haben muss. Denn die ganze Gerechtigkeitsfrage lässt sich im Grunde darauf reduzieren, dass es um Befähi­gungsgerechtigkeit geht: Jeder muss befähigt werden, sich seinen Lebensweg zu suchen. In meiner Volksschulklasse haben damals nur vier das Abitur gemacht; heute liegt die Abiturien­tenquote bei 50 Prozent. Nach dem Abitur ziehen die Jungen weg und treffen sich in den Städten an den Universitäten wieder. Und nur ein Teil von ihnen kehrt nach dem Studium in die Heimat zurück, was zur Folge hat, dass bestimmte Regionen in Deutschland Stück für Stück junge Menschen verlieren, weil sie nicht hinreichend attraktiv sind. Wenn Sie in Süd­westfalen, einer der führenden Wirtschaftsregionen, mit kleinen und mittleren Unternehmen sprechen, dann fragen die sich schon heute, wie sie ihre Arbeitsplätze in Zukunft besetzen sollen. Nicht wenige von diesen Unternehmen befürchten, dass sie am Ende den Arbeitskräf­ten hinterherziehen müssen. Wenn dies eintritt, sind die Folgen unabsehbar. Deshalb sage ich: Wir haben noch zwei, drei Jahrzehnte Zeit, den Wandel zu gestalten, müssen aber jetzt damit anfangen. Deshalb ist es gut, wenn in Berlin darüber nachgedacht wird, was heute, morgen und übermorgen insoweit zu tun ist. Allerdings habe ich im Moment den Eindruck, dass der Prozess stockt, weil die Beteiligten sich gegenseitig blockieren.


Es gibt in der Politik zwei Fragen, die man sich stellen muss. Die erste Frage lautet: Welche Politik müssen wir machen, die für das Land und die Menschen in diesem Land die bestmög­liche ist? Die zweite Frage ist: Welche Politik müssen wir machen, damit wir wiedergewählt werden? Und diese Fragen werden nicht gleich beantwortet. Die Politik ist immer in der Gefahr, sich auf die Beantwortung der einen Frage zu konzentrieren, bei der es nicht um die Langfris­tigkeit der Handlungsansätze geht.


Kirchhof: Herr Müntefering, Sie kommen allmählich zur Gleichwertigkeit nicht der Lebens­verhältnisse, sondern der Regionen. Ich möchte dies an Ihrem Sauerland-Beispiel klarma­chen. Wenn die dortigen Abiturienten sich auf die Universitäten in ganz Deutschland verteilen, dann ist doch die Gleichheit der Lebenschancen für die Sauerländer gegeben, und zwar ge­rade, weil wir im Bundesstaat differente Angebote haben – hier kann man gut Jura studieren, dort besser Medizin etc. Wenn die Betreffenden nach ihrem Studium nicht zurückkehren, ist dies aus einer struktur- oder regionalpolitischen Perspektive sicher ein Ärgernis, hat aber nichts mit Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse bzw. Gleichheit der Lebenschancen der Individuen zu tun.


Müntefering: Wenn die ausgebildeten Ärzte nicht ins Sauerland kommen, sondern in die gro­ßen Städte ziehen, weil es dort vielleicht mehr Privatpatienten gibt, dann ist das für die Men­schen im Sauerland ein Drama. Sie glauben doch nicht, dass eine junge Frau in eine Stadt zieht, in der es weder Frauen- noch Kinderärzte gibt. Deshalb gibt es mittlerweile Stipendien für Medizinstudenten, wenn diese sich bereit erklären, nach ihrem Studium als Landarzt zu arbeiten. Angesichts der Altersstruktur in der Ärzteschaft bedarf es solcher Maßnahmen.


Henneke: Wir beschreiben im Moment vor allem das Problem, wollen aber doch auch nach Lösungen suchen. Das Sauerland – Südwestfalen, aber auch Ostwestfalen, Ministerpräsident Laschet hat es gerade gesagt – ist der Leistungsmotor fürs Land. Wenn Sie sich jetzt die Stadt Lennestadt im Kreis Olpe einmal unter dem Gesichtspunkt des kommunalen Finanzausgleichs ansehen: Mit ihren 25.000 Bürgern profitiert Lennestadt knapp von der sog. Einwohnerver­edelung, also der Besserstellung im kommunalen Finanzausgleich. Konkret bedeutet dies, dass dem ganzen Kreis Olpe für die Berechnung des Finanzausgleichs nur 500 Personen hinzugerechnet werden, während sich die Einwohnerschaft des Ruhrgebiets auf diese Weise fiktiv um 1,8 Mio. Menschen erhöht, die als Bedarf anerkannt werden. Wir haben also (Landes-)Regelungen, die zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen, was etwa mit besonderen sozialen Herausforderungen in den Ballungsregionen gerechtfertigt wird.


Noch ein anderer Gesichtspunkt. Sie, Herr Müntefering, haben zu Recht auf die Binnenwan­derung hingewiesen. Dabei handelt es sich aber keineswegs um eine Wanderung nur in die Städte. Der Kreisbereich hat seit der letzten Volkszählung 2011 über eine Millionen Einwohner hinzugewonnen, wobei es natürlich Gebiete wie in Ostvorpommern, in Sachsen-Anhalt, in der Eifel oder in Oberfranken gibt, die von deutlichen Einwohnerverlusten geprägt sind. Dasselbe gilt für die Städte. Auch dort gibt es solche, die Einwohner verlieren, wie solche, die Einwohner hinzugewinnen. Wir haben es also mit gegenläufigen Entwicklungen zu tun.


Nun zur Gleichwertigkeitskommission. Dazu hat die Bundesregierung gerade heute wieder ein Zwischenfazit gezogen. Ich konnte mich zwar noch nicht eingehend damit befassen, aber was uns dort als Ergebnis präsentiert wird, ist geradezu jämmerlich. Nur um es klarzustellen: Die Gleichwertigkeitskommission hat als Kommission bislang nur einmal getagt, bei welcher Ge­legenheit jedes Mitglied zweieinhalb Minuten sprechen durfte. Nach dieser Sitzung letztes Jahr im September wurden Arbeitsgruppen gebildet, die alle im April ihre Berichte vorgelegt haben. Daraus hat die Bundesregierung am 10.7.2019 Schlussfolgerungen gezogen, die windelweich sind. Angekündigt wurden ferner Gespräche mit den Ländern und den Kommunen über die Umsetzung. Ein Gespräch mit den Ländern hat stattgefunden, aber keine Ergebnisse gezeitigt. Das Gespräch mit den kommunalen Spitzenverbänden ist für die kommende Woche geplant. Damit wurde ein halbes Jahr vertan, weil wir im Grunde doch darüber sprechen müssen, wer das, was auch wir hier als notwendig herausgearbeitet haben, tatsächlich ins Werk setzt, wer also z. B. dafür sorgt, dass sich die Ärztedichte auf dem Lande wieder verbessert. Und zu Ihnen, Herr Müntefering, weil Sie vorhin von Ihrer Schulzeit sprachen: In meiner Volksschul­klasse war ich der Einzige, der Abitur gemacht hat, was auch nur möglich war, weil in den Jahren zuvor überhaupt erst eine entsprechende Schule aufgebaut worden war. Insoweit kön­nen wir also durchaus stolz darauf sein, welche Entwicklung die ländlichen Räume seinerzeit und bis heute genommen haben. Jetzt bemühen sich Landkreise darum, die Zulassungskrite­rien für das Medizinstudium so zu ändern, dass es nicht nur auf die Abiturnote, sondern auch auf Faktoren wie Sozialkompetenz, Rückkehrwilligkeit bzw. die Bereitschaft, auch in der Flä­che zu arbeiten, ankommt, und finanzieren das Studium vielleicht auch noch. Für solche Maß­nahmen brauche ich kein Bundesgesetz mit möglicherweise auch noch eher hinderlichen Vor­gaben, sondern vielmehr die Initiative von Kreisen wie dem Kreis Olpe oder dem Hochsauer­landkreis, deren Ziel es ist, die Menschen an sich zu binden. Dazu gehören auch Investitionen in Fachhochschulen, um den Fachkräftebedarf vor Ort abdecken zu können.


Müntefering: Richtig ist: Die Kreise sind nicht in gleichem Maße von den Auswirkungen des demografischen Wandels betroffen. Es ist klar, dass die Kreise, die in der Nähe größerer Städte liegen, von deren Sogwirkung profitieren. Dennoch ist es wichtig, dass überall die Grundbedingungen geschaffen werden dafür, dass die Menschen dort leben können, wo sie leben und weiter leben wollen. Und zu den Grundbedingungen gehört eine ausreichende medizinische Versorgung ebenso wie ein ausreichendes Angebot an sonstigen Leistungen der Daseinsvorsorge, einschließlich der Verfügbarkeit moderner Infrastrukturen. Dafür benötigen wir Zeit; es handelt sich um Herausforderungen, die wir bislang vernachlässigt haben. Ich sage daher noch einmal: Auch für die Demokratie ist es wichtig, dass die Menschen erfahren: Demokratie funktioniert vor Ort. Deshalb werden wir uns um die Folgen des demografischen Wandels stärker als bislang kümmern müssen und brauchen dafür einen Atem, der über die Länge einer Legislaturperiode hinausträgt. Ob Gemeinschaftsaufgaben insoweit taugliche Instrumente sind, wird die Politik zu entscheiden haben. Jedenfalls sollten wir auch für solche Ansätze offen sein. Was die Ärzte angeht, sollte man vielleicht auch darüber nachdenken, ihre Freiheit zu beschränken, der ärztlichen Tätigkeit an Orten ihrer Wahl nachzugehen.


Kirchhof: Damit würden Sie allerdings die Berufsfreiheit über Bord werfen, Herr Müntefering, so geht es wirklich nicht. Hier mein Friedensangebot: Natürlich gibt es eine Gleichwertigkeit im Sinne einer gewissen Grundstruktur. Es darf keine abgehängten Regionen geben. Die Frage ist nur, wie weit das geht. Der Versuch, Gleichwertigkeit herzustellen, darf jedenfalls nicht dazu führen, dass auf diese Weise ein Gegenprinzip zur Bundesstaatlichkeit konstruiert wird. Jedes Land muss seine Präferenzen wählen und dafür auch seine Bürger belasten dür­fen, z. B. durch Gebühren oder Steuern. Unabhängig davon muss der Staat im Wege der Strukturpolitik gewisse Mindeststandards gewährleisten. Über diese Mindeststandards hinaus darf das Gleichwertigkeitspostulat aber nicht wirken. Konkret zur medizinischen Versorgung: Hier stellen die kassenärztlichen Vereinigungen über die Zuweisung von Kassensitzen ja schon eine gewisse Verteilung sicher. Auf die Vergabe von Stipendien wurde schon hingewie­sen. Schließlich gibt es Länder, die einen bestimmten Anteil ihrer Studienplätze für potenzielle Landärzte reservieren. Darin liegt ein Eingriff in die Grundrechte aus Art. 3 und 12 GG, der freilich – das will ich gar nicht ausschließen – gerechtfertigt sein kann, obwohl es natürlich schon problematisch ist, jemanden, der nicht aufs Land ziehen will, den Zugang zum Medizin­studium zu verwehren. Ist dies ein zulässiger Sachgrund? Allerdings wird man auf solche Quo­ten ohnehin nicht allzu viel geben, da das Versprechen, Landarzt zu werden, schnell abgege­ben ist, aber am Ende nur schwer durchzusetzen sein wird.


Henneke: Bleibt die Frage, was konkret zu tun ist. Das bereits erwähnte Papier des Bundes­kabinetts von heute bleibt darauf die Antwort weitgehend schuldig. Dort ist die Rede von Akti­vitäten beim Wohnungsbau, im Bereich der Ansiedlung von Bundesbehörden in ländlichen Räumen soll auch noch einiges geschehen, schließlich wird die Gründung einer Ehrenamts­stiftung angekündigt. Auf mehr konnten sich die Partner der Großen Koalition bislang offenbar nicht verständigen, und überdies hat der Bundesfinanzminister bereits angekündigt, dass kon­krete Umsetzungsmaßnahmen ggf. aus dem Haushalt des jeweiligen Ressorts finanziert wer­den müssten. So wird das nicht funktionieren.


Konzentrieren wir uns zunächst darauf, was der Bund machen könnte. Dieser ist unbestreitbar zuständig für Investitionen zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet. Solche Maßnahmen hat die Kommission unter Federführung von Oliver Wittke auch vorge­schlagen, doch braucht es dafür Geld. Wenn die Reichweite bereits existierender Förder­instrumente über Ostdeutschland hinaus auch in strukturschwache Regionen im Westen aus­geweitet werden soll, und darum geht es in der Sache, kann es nicht ausreichen, auf den bisherigen Etat zu verweisen. Vielmehr müssen zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt wer­den. Für uns beim Deutschen Landkreistag ist die ländliche Entwicklung in vielen Fragestel­lungen ein ganz zentrales Thema. Auch insoweit bestand bei allen relevanten Arbeitsgruppen der Kommission Einigkeit, dass etwas getan werden müsse. Die Bundeskanzlerin sagte in ihrer Regierungserklärung anlässlich der Haushaltsdebatte zwar, es handele sich um ein wich­tiges Thema, kündigte zugleich aber weitere Gespräche an, weil es noch rechtlichen Klärungs­bedarf gebe. Tatsächlich besteht ein solcher Erörterungsbedarf aber nicht mehr, weil wir ge­nau wissen, was fehlt und gemacht werden muss. Zur Frage der Breitbandversorgung hat Frau Karliczek ungewollt einen Hit gelandet, weil ihre Formulierung, 5G brauche es nicht an jeder Milchkanne, von vielen aufgegriffen und zum Anlass genommen wurde, genau für eine solche Art der wirklich flächendeckenden Versorgung einzutreten. Auch wir sagen: Dort, wo eine Ver­sorgung eigenwirtschaftlich nicht möglich ist, können und sollten Bund, Länder und Kommu­nen tätig werden. Wir haben also gemeinsam eine ganze Reihe von Handlungsfeldern identi­fiziert, auf denen etwas geschehen könnte und sollte, was freilich Geld kosten wird. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verständlich, dass der Bund von den Ländern erwartet, dass diese ihrerseits erklären, wo sie die Schwerpunkte ihrer Aktivitäten im Sinne der Herstellung von Gleichwertigkeit sehen. Mit solchen Erklärungen haben sich die Länder bislang allerdings eher zurückgehalten.


Daher nochmals die Frage: Wer löst was wie? Danach wenden wir uns dem Thema zu, wie die Kommunen gestärkt werden und welche Chancen, aber auch Herausforderungen sich künftig mit Europa verbinden. Davor will ich Ihnen aber Gelegenheit geben, auf meine Frage eine kurze und knackige, finanzierbare und auch im Hinblick darauf, wer die Verantwortung übernehmen soll, klare Antwort zu geben.

 

 70 Jahre GG Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof, Franz Müntefering und Prof. Dr. Hans-Günter Henneke (v.l.n.r.)

 

Müntefering: Ich halte die Einrichtung einer Ehrenamtsstiftung für keine ganz unwesentliche Sache, auch wenn damit die Probleme des Ehrenamtes natürlich noch nicht gelöst sind. Wir haben in Deutschland etwa 23 oder vielleicht auch 28 Millionen zivilgesellschaftlich engagierte Menschen. Diese spielen bei dem Gelingen von Kommunen und Stadtteilen eine große Rolle. Wenn die Bundesregierung es schafft, dazu neue Impulse zu geben, wäre ich dafür sehr dank­bar. Das Ehrenamt braucht dringend Unterstützung. Ich komme noch einmal auf das Thema Palliativversorgung in Hospizen zurück. Dass es dies heute bereits so umfänglich gibt, ist die schönste und größte Bürgerbewegung, die wir bekommen haben. Trotzdem müssen wir mit Sorge in die Zukunft blicken und die Frage stellen, wer diese Aufgaben künftig wahrnehmen wird. Also: Lassen Sie uns die Ehrenamtsstiftung nicht geringschätzen. Zugleich gebe ich Ihnen recht: Das, was sonst noch auf dem Tisch liegt, reicht nicht. Deshalb sage ich meiner eigenen Partei, aber auch den anderen: Hört auf darüber zu sprechen, ob ihr regieren wollt oder nicht, sondern setzt euch zusammen und macht etwas – wer denn eigentlich sonst, wenn nicht diese Bundesregierung! Es müssen Impulse in das Land gegeben werden, und zwar solche, die länger wirken als vier Jahre. Dazu ist Mut gefragt.


Henneke: Wie beim Kohleausstieg?


Müntefering: Genau, man muss eine längere Perspektive wählen, so wie ich das bei der Rente ab 67 getan habe. Ich habe damals gesagt, wir setzen dies bis zum Jahr 2031 um. Und bis heute wird mir intern entgegengehalten, dass dies die Aussichten bei jeder Wahl bis dahin verschlechtere. Dem kann man nur entgegenwirken, in dem man immer wieder erklärt, warum eine solche Maßnahme notwendig ist, denn die meisten unserer Probleme lassen sich eben nicht in der Zeitspanne einer Legislaturperiode lösen, die ja in Wirklichkeit nur drei Jahre be­trägt. Also: Die Kommission muss noch einmal zurück an den Tisch und weitermachen.


Henneke: Wir alle loben Sie für die damalige Entscheidung für die Rente mit 67. Das war unbestreitbar richtig, hat unser Land vorangebracht und erhöht natürlich Ihre Glaubwürdigkeit sehr, wenn Sie heute erneut für einen langen Atem eintreten.


Kirchhof: Ja, wir brauchen Gleichwertigkeit in bestimmten Grundstrukturen, Gleichwertigkeit heißt aber nicht, dass der Bund alles machen muss. Vielmehr stehen die Länder insoweit ebenso in der Verantwortung und sind mitunter sogar besser dafür geeignet als der Bund, wenn es darum geht, vor Ort etwas zu tun. Wenn ich an Gleichwertigkeit denke, denke ich sicher nicht daran, dass Bayern Deiche bauen oder Niedersachsen etwas gegen Bergrutsche unternehmen muss. Das liegt wohl auf der Hand. Gleichwertigkeit heißt also auch, dass vor Ort entschieden werden muss, wo die Bedürfnisse liegen, und insoweit kann es sehr wohl erhebliche Unterschiede geben, nicht in existenziellen Fragen wie der medizinischen Grund­versorgung, wohl aber bspw. in Fragen der Bildung.


Henneke: Der Deutsche Landkreistag unterstützt die Ehrenamtsstiftung und ist überdies in dem Projekt „Hauptamt stärkt Ehrenamt“ engagiert, das in Kürze startet und in dem 18 Land­kreise mitwirken und für die Dauer von drei Jahren gefördert werden. Auf diese Weise wird auch die Vernetzung vor Ort sichergestellt, die eine Bundesstiftung mit Sitz in Neustrelitz nicht wird leisten können. Jetzt sind wir aber gespannt, was Sie glauben, wie die Kommunen ge­stärkt werden können.


Müntefering: Dazu müssen bestimmte Aufgaben definiert werden, die die Kommunen über­nehmen müssen und zu deren Erledigung sie auch die erforderlichen Finanzmittel erhalten. Dazu wird man bspw. ein Altenhilfesicherungsgesetz machen müssen. Wir haben – ich argu­mentiere jetzt aus Sicht des Vorsitzenden der Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen – in allen Kommunen Kinder- und Jugendhilfeausschüsse. Das ist gesetzlich so vorgesehen. Demgegenüber funktioniert die Altensicherung nur über die allgemeine For­mel, dass alle, die in einer Stadt wohnen, dort auch versorgt und betreut werden müssen; spezifischere Regelungen gibt es dazu nicht. Das war vertretbar, solange die Zahl der Alten in einer Kommune überschaubar war. Mittlerweile kann es dagegen für den Einzelnen sehr vor­teilhaft sein, in einer Stadt zu wohnen, der Geld für eine aktive Altenpolitik zur Verfügung steht. Deshalb wäre es gut, wenn ein Altenhilfesicherungsgesetz bestimmte Standards verbindlich vorgibt und gleichzeitig die Finanzierung so sicherstellt, dass auch ärmere Kommunen in der Lage sind, entsprechende Leistungen zu erbringen.


Henneke: Und meinen Sie damit allgemeine Deckungsmittel oder zweckgebundene Zuwei­sungen?


Müntefering: Das sind Feinheiten, über die man sprechen muss. Eine Zweckbindung wird je­denfalls insoweit notwendig sein, wie es erforderlich ist, um eine zweckfremde Verwendung zu verhindern. Als Minister habe ich 1998/1999 das Programm „Soziale Stadt“ erfunden. Dem lag die Überlegung zugrunde, dass die Kommunen Geld für soziale Zwecke erhalten sollten. Natürlich wurde gefragt, wer die Mittelverwendung kontrollieren solle. Meine Antwort damals: Keiner. Zu zehn bis 15 Prozent werde Geld zwar vermutlich in sinnlose Projekte investiert, in der Mehrzahl der Fälle würden die Kommunen aber sicher das Richtige unternehmen. Ich glaube bis heute, dass es keiner engmaschigen Kontrollen bedarf. Es geht also nicht darum, den Kommunen kleinteilige Vorgaben zu machen, gleichzeitig müssen sie es schaffen, bspw. in der Altenpolitik aktiv zu sein.


Henneke: Allerdings wurden mit der letzten Verfassungsreform Kontrollrechte für den Bundes­rechnungshof in das Grundgesetz aufgenommen, nach dem Motto: Wer Geld gibt, will auch dessen Verwendung kontrollieren.


Kirchhof: Wir sind uns einig, dass wir die Kommunen stärken wollen. Das ist erfreulich festzu­stellen. Und niemand im Saal wird Ihrer Forderung, Herr Müntefering, widersprechen, dass Aufgaben klar definiert und finanziert sein müssen. Insoweit handelt es sich freilich ein Stück weit um goldene Worte und einen frommen Wunsch. Ich glaube, dass wir im Hinblick auf die Stärkung der Kommunen gegenwärtig noch ein anderes Problem haben, für das ich keine Lösung sehe, nämlich eine akute Schwäche der Demokratie vor Ort. Aus Anlass der letzten Kommunalwahl in Baden-Württemberg hat sich gezeigt, wie schwierig es ist, Kandidaten für ein politisches Ehrenamt in den Kommunen zu gewinnen. Die Leute haben uns ganz direkt gesagt: Das tue ich mir nicht an, weil die Demokratie vor Ort sehr zeitaufwändig geworden ist. Wenn Sie Gemeinde- oder Stadtrat werden, dann müssen Sie pro Woche sicher vier Abende dafür opfern. Derartiges können sich etwa Handwerker oder Junganwälte, die erst ihren Platz finden müssen, gar nicht leisten und viele andere wollen es sich nicht leisten. Denn gerade bei Jüngeren gibt es heute bei vielen die Vorstellung einer „Work Life Balance“, was dazu führen kann, dass man schon im Beruf nicht zu viel arbeiten will und auf Geld verzichtet, weil einem andere Dinge wie Familie, Sport, Hobbies etc. wichtiger sind. Ich fürchte daher, dass die Be­reitschaft, sich im allgemeinen Ehrenamt oder auch gerade in der Kommunalpolitik zu enga­gieren, noch weiter nachlassen wird. Wie gesagt: Eine Lösung habe ich dafür nicht, bin aber sicher, dass dies auch einer der Gründe dafür ist, dass wir gegenwärtig so wenig selbstbe­wusste Kommunen haben. Es herrscht eine gewisse Lustlosigkeit, fast ein Desinteresse an der kommunalen Demokratie.


Müntefering: Dies wird noch verschärft, wenn es um Kommunen geht, die aufgrund von Geld­mangel nicht mehr in der Lage sind, selbst Dinge vor Ort zu entscheiden und zu gestalten. Wer in einer Kommune lebt, bei der die Verwendung der vorhandenen Gelder weitgehend bereits durch rechtliche Vorgaben des Bundes oder des Landes feststeht, bei dem ist die Nei­gung groß, die kommunale Verwaltung allein in die Hände der kommunalen Bediensteten zu legen. Ich war auch zehn Jahre lang Kommunalpolitiker und habe dies sozusagen immer als die duale Ausbildung für die Politik im Bund und im Land empfunden. Deshalb teile ich Ihre Sorge, dass wir immer weniger Menschen finden, die sich vor Ort engagieren wollen. Die aggressive Tonlage, in der mittlerweile mancherorts diskutiert wird, wird dazu ein Übriges bei­tragen. Wer will sich schon Vorwürfen aussetzen, obwohl er an der Lage nichts ändern kann. Das ist ein Demokratieproblem, das – ich sage es noch einmal – auch etwas mit der Gleich­wertigkeit der Lebensverhältnisse zu tun hat. Darum müssen wir uns nun dringend kümmern, sonst wird es sehr schwierig werden.


Henneke: Darüber hinaus spielt aber ganz sicher auch die immer weiterreichende Fremd­bestimmung von kommunalen Aufgaben ohne eine ausreichende Finanzierung eine wichtige Rolle. Wir sind uns also in der Analyse des Problems einig, die Lösung bleibt schwierig. Jetzt die letzte Runde: Ferdinand Kirchhof hat zu Recht das Thema Europa angesprochen. Gerade wird eine neue Kommission unter Führung einer deutschen Kommissionspräsidentin gebildet, die Kommunalpolitik im Stadtrat von Sehnde gelernt hat und anschließend erst in der Landes-, dann in der Bundespolitik und jetzt auf europäischer Ebene aktiv geworden ist.


Müntefering: Gute Präsidentin …


Henneke: Und was raten wir ihr jetzt?


Kirchhof: Jetzt geht es erst einmal um die Bildung der Kommission. Was dann sicher ein gro­ßes Problem sein wird – dazu hat sie sich auch schon geäußert: Europa wird bislang vor allem als Projekt der Eliten verstanden, also der Adepten, die immer wissen, wohin es gehen muss, was für Europa gut ist, und die auch anderen gerne sagen, wie es sein muss. Ich habe ein wenig die Befürchtung, dass Europa die Unterstützung in der Bevölkerung verliert.


Wir müssen deshalb ganz konkret zeigen, was Europa dem Einzelnen für einen Mehrwert bringt. Ein ganz einfaches Beispiel: In der Finanzkrise von 2008 waren in Spanien über 50 Prozent der Jugendlichen ohne Arbeit. Die Situation hat sich zwar mittlerweile wieder etwas verbessert, ohne wirklich gut zu sein, was aber nicht heißt, dass die Generation, die seiner­zeit von Jugendarbeitslosigkeit betroffen war, nun plötzlich Arbeit finden würde. Die Betroffe­nen werden vielmehr ausgesteuert; deshalb spricht man in Spanien auch von der Lost Gene­ration. Ich habe einen griechischen Doktoranden, der jetzt 35 Jahre alt und Anwalt ist. Auf meine Frage, wie es mit dem Erwerb einer Partnerschaft aussieht, sagte er mir, dass er darauf keine Chance hätte, sondern immer nur projektbezogene Verträge mit einer Laufzeit von drei Mona­ten bekomme – und das schon seit sieben, acht Jahren. Diese Menschen empfinden die Europäische Union nicht als positives Erlebnis wie wir, die damit vor allem die Erwartung ver­binden, dass es nie wieder Krieg in Europa geben dürfe, und die den großen ökonomischen Erfolg des Binnenmarktes erlebt haben. Für diese Generation ist die Europäische Union viel­mehr etwas, was ihnen im Extremfall vielleicht sogar Chancen nimmt. Insoweit muss die Union dringend aktiv werden und vor allem nicht den Weg gehen, dass ein immer enger werdendes Europa ein Europa mit mehr Kompetenzen sein müsse. Die Bürger müssen für Europa wieder begeistert werden. Daran fehlt es momentan. Klar ist: Wir haben kein europäisches Volk. Auch die Europawahl war keine europäische Wahl, sondern es waren 28 Nationalwahlen ins euro­päische Parlament. Das zeigt sich auch an der Parteienstruktur. Ob man insoweit schnell etwas ändern kann, ist eine andere Frage. Sicher ist jedenfalls: Wo in den fünfziger und sech­ziger Jahren große Begeisterung herrschte, stehen heute Europa viele sehr reserviert gegen­über. Die Wirtschaft mag Europa aufgrund des Binnenmarktes, also aus einer spezifisch öko­nomischen Perspektive heraus sehr. Aber Europa als Sache der Bürger – das ereignet sich bei uns noch nicht. Wenn man Europa vorantreiben will und es enger werden soll, dann muss es zum Bürger hin enger werden. Darüber müssten wir uns Gedanken machen.


Henneke: Ist das nicht etwas, was Martin Schulz versucht hat, ganz vorne im Koalitionsvertrag zu platzieren?


Müntefering: Martin Schulz steht ganz sicher für Europa und hat dort auch gute Arbeit geleistet. In der Tat: Europa ist eine der ganz großen Herausforderungen, die wir haben. Für meine Generation – ich werde bald 80 Jahre alt – war Europa das Beste, was uns in der Jugend passieren konnte. Ich war als junger Soldat auf den großen Friedhöfen in Frankreich und wir haben auch sehr unmittelbar erlebt, was es bedeutete, dass die Grenzzäune durchgeschnitten wurden. Europa ist aber auch geostrategisch eine große Sache für die Zukunft. Wir Deutschen stellen 1,1 Prozent der Weltbevölkerung, alle Europäer zusammen stellen fünf Prozent – und dennoch ist Europa im Kern der Hort der Demokratie auf der Welt. Wenn dieses Europa nicht gelingt, sehe ich schwarz für die weltweite Entwicklung. In den großen Wachstumsregionen Asien und Afrika – die Zahl der Afrikaner wird sich in diesem Jahrhundert noch vervierfachen – wird Demokratie nicht in dem Sinne gelebt, wie wir sie kennen. Darin liegt eine große Her­ausforderung.


Was also ist zu tun? 1987 ist es fast gelungen, einen europäischen Arbeitsmarkt zu verwirkli­chen. Das hätte einen Vorteil für alle Europäer bedeutet. Mit Ausnahme der Briten haben dem Vorhaben alle zugestimmt, weil seinerzeit aber noch das Prinzip der Einstimmigkeit herrschte, war das Projekt damit gescheitert. Ich selbst habe als Minister versucht, im Bereich der Renten ein gemeinsames System einzuführen, was sich aber nicht verwirklichen ließ, weil die Nieder­lande einen ganz anderen Ansatz verfolgten. Trotzdem bin ich der Auffassung, dass unser Klagen über fehlende Arbeitskräfte vielleicht ja auch Rechnung getragen werden könnte, wenn es gelingt, die europäischen Potenziale besser auszuschöpfen. Auch wenn es keinen gemein­samen Arbeitsmarkt gibt, muss es doch – wie in den USA – möglich sein, leichter zwischen den einzelnen europäischen Arbeitsmärkten zu wechseln. Vor diesem Hintergrund wünsche ich Frau von der Leyen viel Erfolg. So problematisch wir Deutschen auch sein mögen, so sind wir doch auch eine der entscheidenden Stützen für dieses Europa. Gerade nach dem Aus­scheiden Großbritanniens trägt Deutschland insoweit eine besondere Verantwortung für das Gelingen Europas.


Henneke: Das war jetzt ein einigermaßen optimistischer, wenn auch in den Instrumenten offener Schlusssatz. Wir haben versucht und erreicht, vielfältige Themen – von Gleichwertig­keit und Demografie über den kommunalen Gestaltungsspielraum bis hin zu staatlichen Vor­gaben und zur Rolle Europas – anzusprechen. Auch die eine oder andere Problemlösung konnten wir nach vorne schieben. Insoweit darf ich Ihnen für Ihre sehr engagierten und meinungsfreudigen Beiträge danken, was gerade dazu beigetragen haben mag, dass wir nicht in jeder Hinsicht einig waren. Auch das ist aber ein wichtiges Ergebnis für uns!

 

 

 

Programm

14.30 Uhr | Präsidiumssitzung

15.30 Uhr | Führung durch den ehemaligen Sitz der Bundesregierung: Kanzlerbungalow und Bundesratssaal

17.30 Uhr | Mitgliederversammlung

18:30 Uhr | Empfang

19:00 Uhr | Begrüßung
Dr. Ruth Rosenberger | Leiterin Digitale Dienste im Haus der Geschichte
Dr. Dietrich H. Hoppenstedt | Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.

Abend-Talk
Franz Müntefering | Vizekanzler a.D.
Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof | Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.

unter Moderation von

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke | Vizepräsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V. und
Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages

20:30 Uhr | Imbiss

 

Die Veranstaltung fand mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Haus der Geschichte in Bonn statt.

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Die Dokumentation der Podiumsdiskussion finden Sie hier zum Download.

 

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